Verbrannte und verbotene Bücher: Zittaus öffentliche Bibliotheken im Nationalsozialismus
Vorgeschichte 30. Januar bis 5. März 1933
Die Herrschaft der Nationalsozialisten begann am 30. Januar 1933 mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler durch den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg. Nur zwei Tage später löste Hitler den Reichstag auf und ordnete Neuwahlen für den 5. März an. Dies erfolgte in Absprache mit dem Reichspräsidenten und den Mitgliedern der Regierung, um die Ernennung Hitlers und die Neubildung einer Regierung durch eine demokratische Wahl legitimieren zu lassen. Doch wurde der Wahlkampf durch die Reichsregierung zu ihren eigenen Gunsten massiv beeinträchtigt. Am 4. Februar hatte Hindenburg die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz des deutschen Volkes“ erlassen, mit der Einschränkungen der Presse- und Versammlungsfreiheit ermöglicht wurden. In Sachsen wurden zum Beispiel ab dem 21. Februar alle Demonstrationen der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) untersagt.
Nachdem in der Nacht vom 27. zum 28. Februar das Reichstagsgebäude in Berlin durch einen Brand weitgehend zerstört wurde, erließ der Reichspräsident noch am selben Tag eine weitere Verordnung, die die Bürgerrechte der Weimarer Verfassung suspendierte. Auf dieser Grundlage nahm die „Sturmabteilung“ (SA) der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter Partei (NSDAP), die neben anderen NSDAP-nahen Organisationen tags zuvor als Hilfspolizei zugelassen worden war, in den ersten Stunden des 28. Februar mehrere tausend Menschen fest – vor allem Kommunisten, Sozialdemokraten und linke Intellektuelle. Unter dem Eindruck der Verfolgung politischer Gegner der NSDAP war die Wahl zum 8. Deutschen Reichstag am 5. März 1933 keine freie und demokratische Entscheidung mehr. Und trotzdem ist es wichtig zu betonen, dass eine Mehrheit der zur Wahl berechtigten Menschen im Reichsgebiet ihre Stimme der Partei Adolf Hitlers gab. In Zittau nahmen 88,6 Prozent der Wahlberechtigten teil. Von ihnen wählten 57,7 Prozent die NSDAP. Die Partei steigerte damit ihre Stimmenzahl seit der letzten Reichstagswahl im November 1932 von 7072 auf 11799.
8. März 1933 in Zittau
„Über bemerkenswerte Vorgänge“ wusste die Zittauer Morgenzeitung wenige Tage nach der Wahl, am 9. März 1933 zu berichten. Tags zuvor hatten „starke Polizeikräfte“ um 15:30 Uhr die „Volksbuchhandlung“ und „das Volkshaus“ besetzt. Beide Einrichtungen wurde nach Waffen und „Zersetzungsschriften“ durchsucht. Parteimitglieder der SPD oder KPD waren in keiner der beiden Einrichtungen angetroffen worden. Im Nachgang der polizeilichen Maßnahme stürmten Angehörige der SA beide Orte und besetzten diese ebenfalls. Sie entfernten u.a. „Fahnen, Bilder, Zeitungsbände, Bücher, Propagandamaterial“ und trugen diese in einem langen Zug „unter Vorantritt einer Spielabteilung“ zur oberen Neustadt. Hier bildeten sie zwischen Herkulesbrunnen und dem Marstallgebäude (heute besser bekannt als Salzhaus) „ein geschlossenes Karree, in dessen Mitte aus dem im Volkshaus und der Volksbuchhandlung gefundenen Material ein Scheiterhaufen errichtet wurde. SA-Leute brannten den Papierstoß an und warfen dann einzelne rote Fahnen, Flaggen, Flugblätter, Plakate, Ebert-Bilder, Volkszeitungsbände, eine Plakatsäule aus Pappmaschee und Zeitungsmakulatur in die Flammen.“ Die Dresdner Nachrichten berichteten ebenfalls am 9. März über diese Bücherverbrennung und gaben an, dass etwa 1000 Menschen der Aktion beigewohnt hätten.
Diese Bücherverbrennung zählt zu den ersten, die in der Zeit des Nationalsozialismus auf dem Gebiet des Deutschen Reiches durchgeführt wurden. Zunächst gab es jene frühen und wilden Terrorakte, die vor allem der Einschüchterung des politischer Gegner*innen dienten. Diese erfolgten in der Regel im Anschluss an die Besetzung und Durchsuchung von Einrichtungen, die der SPD, der KPD, der Gewerkschaften und anderen politischen Gegnern der Nationalsozialisten angehörten oder nahestanden.
Heute sind vor allem die vielen Bücherverbrennungen um den 10. Mai 1933 bekannt. Damals hatte es reichsweit organisierte „Aktionen wider den undeutschen Geist“ gegeben, bei denen Studierende in vielen Universitätsstädten eine bestimmte Auswahl deutschsprachiger Literatur verbrannten. Im Rahmen dieser Aktionen kam es zu Störungen des Unterrichts, zu Belästigung und Nötigung von Lehr- und Universitätspersonal sowie anderer Studierender. Bücher wurden in großer Zahl aus den Universitäten geraubt und auf einem nahegelegenen prominenten Platz in aller Öffentlichkeit und im Beisein schaulustiger Massen verbrannt. Über diese politisch organisierten Formen hinaus fanden in der Zeit des Nationalsozialismus auch Verbrennungen von Literatur zu verschiedenen Anlässen statt, etwa bei Sonnenwendfeiern. In der Auswahl der Literatur orientierten sich diese Aktionen an jenem im Mai.
In Sachsen fanden vorrangig Verbrennungen des ersten, „wilden“ Typs statt, wobei die in Dresden, Freital, Zittau und Zwickau am 8. und in Leipzig am 9. März den Anfang machten.
Während bei den frühen Bücherverbrennungen Anfang März vor allem politische Schriften und Materialien verbrannt wurden, war die Auswahl der Literatur, die in der im Mai erfolgten „Aktion wider den undeutschen Geist“ vernichtet wurden, durch hierfür vorbereitete Listen beeinflusst. Vordenker war der nationalsozialistische Bibliothekar Wolfgang Hermann (1904-1945). 1933 leitete er die Zentralstelle für das deutsche Bibliothekswesen in Berlin. Bereits in den Jahren vor 1933 hatte Hermann Listen über jene Literatur zusammengestellt, die seiner Ansicht nach nicht mit dem nationalsozialistischen Gedankengut vereinbar waren. Die „Deutsche Studentenschaft“, eine gemeinsame Vertretung der Studierenden im Deutschen Reich, griff bei ihren Aktionen im Mai auf die von Wolfgang Hermann erstellte „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ zurück. Waren die Bücherverbrennungen 1933 eher von unten, durch die SA oder Student*innen organisiert worden, etablierte sich in der Zeit nach 1933 ein System zentraler Steuerung der Zensur und der Überwachung der öffentlich zugänglichen Literatur, das insbesondere die Bibliotheken betraf.
Geschichte der Zittauer Bibliotheken im Nationalsozialismus
1933 gab es in Zittau zwei Bibliotheken, die sich in Gemeindehand befanden: eine wissenschaftliche Zittauer Stadtbibliothek, die sich damals im Heffterbau in der Klosterstraße 3 befand, sowie die 1909 gegründete Volksbücherei im Dornspachhaus.
Sogenannte Volksbüchereien, die anders als wissenschaftliche oder amtliche Bibliotheken der breiten Öffentlichkeit zur Verfügung stehen sollten, sind auf dem Gebiet des heutigen Deutschland seit 1828 bekannt. Am 24. Oktober desselben Jahres hatte Karl-Benjamin Preusker (1786-1871) im sächsischen Großenhain die erste Einrichtung dieser Art gestiftet, um die Bildung der unteren Volksschichten zu fördern.
1931, als die Weltwirtschaftskrise das Deutsche Reich mit voller Wucht traf, wurden Nutzer*innen der meist kostenlosen Volksbüchereien in der Oberlausitz befragt, was ihnen diese Orte bedeuten. Im Folgenden eine Auswahl an Statements, die einem Bericht über die Nutzung[1] entnommen sind:
Im Lesen finde ich Bereicherung für mein Innenleben, aber auch Bereicherung für mein Wissen, welches bei mir noch sehr viele Lücken aufweist. Lesen brauche ich genauso für den Geist, wie Nahrung für den Körper, und das finde ich alles in der Volksbücherei. Wenn das nun auch noch aufhören sollte, das würde für mich [eine] Katastrophe bedeuten.
Kleinrentnerstochter (36 Jahre)
Selbst besitze ich keine Bücher.
Stellmacher (21 Jahre)
Ein Buch neueren Verlages würde ich wohl in einer Privat-Leihbücherei auch nicht erhalten.
Buchhalter (32 Jahre)
Gehen diese bildenden Werte verloren, so ist das gesamte Volk doppelt arm. Dass sich in der Bücherei alle Gesellschaftsklassen finden, die so oft gepriesene Volksgemeinschaft hier einmal zu finden ist, und Leitung und Personal der Bücherei dieser Gemeinschaft förderlich sind, das gefällt mir ganz besonders.
Schlossers (46 Jahre)
Die Volksbücherei bedeutet für mich keine Unterhaltung, damit einem die Zeit vergeht, sondern bei Ausnutzung derselben Aufklärung auf allen Gebieten der Wissenschaft. Wünschte nur, dass sich das ganze Volk diesem Sinne beteiligen würde.
Litograph (56 Jahre)
2,45 Prozent der rund 40.000 Bewohner*innen der Stadt Zittau nutzten in der Zeit zwischen April 1931 und März 1932 das Angebot der Volksbücherei. Das heißt, 980 Leser*innen liehen jeweils mindestens ein Buch aus: unter ihnen 58 Kinder bis 14 Jahre sowie 150 Jugendliche bis 18 Jahre. Insgesamt führte die Städtische Volksbücherei in Zittau zu diesem Zeitpunkt über 12000 Bände.
Die Nationalsozialisten erkannten die Bedeutung dieser Einrichtungen für die Volksbildung, doch verfolgten sie damit eigene ideologische Ziele. In diesem Sinne förderten sie den Ausbau bestehender und den Neubau weiterer Volksbüchereien. Ihren eigenen Erhebungen zufolge gab es 1935 in über 15.000 Orten im Deutschen Reich derartige Einrichtungen. Zählt man die Bevölkerung dieser Orte zusammen, standen die Angebote der Volksbüchereien 45,6 Millionen Reichsbürger*innen zur Verfügung, das entsprach ca. 70 Prozent der damaligen Gesamtbevölkerung. Ab 1934 unterstanden diese in der Gestaltung ihres Angebots den Anweisungen des Reichs- und Preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung.
Erste Säuberungen
Am 14. März 1933 teilte der damalige Oberbürgermeister von Zittau, Walter Zwingenberger (1880-1963) dem Leiter von Museum und Bibliothek mit, dass der NSDAP-Stadtrat Dr. Wilhelm Rehbach von ihm bevollmächtigt worden sei, „die Stadtbibliothek, die Volksbücherei und Lesehalle auf das Vorhandensein antinationaler Bücher und Zeitschriften nachzuprüfen.“[2] Während aus der öffentlichen Volksbücherei und der Lesehalle alles „unerwünschte“ Schriftgut entfernt wurde, galten für die Stadtbibliothek andere Regeln. Zu Studienzwecken und unter besonderer Aufsicht waren hier „jüdische und marxistische“ Literatur weiterhin vorzuhalten.[3]
Bis Anfang 1934 etablierten sich im Deutschen Reich Stellen, die für die Lenkung des Büchereiwesens die Hoheit an sich zogen. Bereits seit Ende März 1933 waren im Rahmen der sogenannten Gleichschaltung durch verschiedene Gesetze staatliche Aufgaben der Länder auf politische Strukturen des Reiches übertragen worden. Entsprechende Stellen auf Länder- und Kreis- sowie kommunaler Ebene waren den übergeordneten Stellen jeweils verantwortlich. Somit galten Entscheidungen der Reichsministerien ab Anfang 1934 auch für die einzelnen Kommunen.
Im Januar 1934 stellten das Ministerium des Inneren und das Ministerium für Volksbildung die Volksbüchereien unter ihre staatliche Aufsicht.[4] Diesen Einrichtungen fiel in ihren Augen nämlich „eine wichtige Aufgabe in der Erziehung des deutschen Menschen zu geistiger und seelischer Erneuerung im nationalsozialistischen Geiste zu.“ Für die Bibliotheken der Stadt Zittau wurde die Staatliche Kreisberatungsstelle für Volksbüchereiwesen in Bautzen zuständig, die wiederum der Sächsischen Landesfachstelle unterstellt war. Diese Kreisfachstelle konnte nun die Bestände der Büchereien jederzeit einer Prüfung unterziehen und war bei der Beschaffung neuer Literatur zwingend zu konsultieren. Auch wenn es bereits Prüfungen der Bestände gegeben hatte, betonten die Ministerien, dass es immer wieder solcher Prüfungen bedürfe. Ziel war es
alles artfremde und volkszerstörende Schrifttum, insbesondere die marxistische, pazifistische, liberalistisch-demokratische Literatur, aber auch die durch die Entwicklung überholten Werke zur Staatsbürgerlichen Erziehung und ähnliches […] zu entfernen.
Bekanntmachung des Ministeriums d. Inneren und des Ministeriums f. Volksbildung, vom 25. Januar 1934
Im April 1934, ein gutes Jahr nach dem Beginn der Herrschaft der Nationalsozialisten, gab die Bibliotheksleitung an, dass sich nur noch 7535 Bücher im Bestand der Volksbücherei befinden. Ohne Kenntnis über die Zahl der Neuanschaffungen in der Zeit, zu denen keine Zahlen vorliegen, bedeutet das, dass fast 40 Prozent des Bestandes von Anfang 1933 durch „Säuberungen“ ausgesondert worden sind.
Fall des Direktors Dr. Reinhard Müller
1933 wurde die Bibliothek in Personalunion vom Museumsleiter Dr. Reinhard Müller geleitet. In der oben zitierten Bekanntmachung hatten die beiden Reichsministerien die Kommunen auch aufgefordert, bei der Besetzung der Stellen der Bibliotheksleitung besonderes Augenmerk auf die „politische Zuverlässigkeit“ der Mitarbeiter*innen zu legen.
Unter diesen Umständen wurde Müller ein an sich gewöhnlicher Verkauf von Dubletten aus dem Bestand der Stadtbibliothek zum Verhängnis. Im November 1933 hatte sich Erich Carlsohn, der Inhaber der gleichnamigen Buchhandlung mit angehörigem Antiquariat in Leipzig an die Stadtbibliothek Zittau gewandt, um von ihr angebotene Dubletten zu erwerben.[5] Der Verkauf war durchaus im Sinne der Bibliothek, da erheblicher Platzmangel herrschte und für einen notwendigen Ausbau oder auch die Anschaffung neuer Bücher immer weniger Mittel zur Verfügung standen. Es wurde vereinbart, dass die Firma Carlsohn alle Dubletten der Bibliothek für eine Zahlung von 200 RM und eine Gutschrift über 150 RM für Bestellungen aus dem eigenen Bestand übernehmen würde.
Ende Februar 1934 schaltete sich Stadtrat Kurt Günzel ein, der seit Dezember 1933 durch OB Zwingenberger angestellt worden war. Günzel monierte, dass der Verkauf der Bücher viel zu günstig erfolgt und nicht durch die Stadt genehmigt worden sei. In seiner Sitzung am 27. Februar 1934 nahm der Stadtrat zu Zittau den Vorgang zur Kenntnis und forderte Müller zur Stellungnahme auf. Müller legte ausführlich dar, dass ein Verkauf der Dubletten bereits vor seiner Zeit vorbereitet und auch von ihm mit den zuständigen Dezernenten der Stadt im Laufe des Jahres 1933 abgestimmt worden sei.
Nun nimmt die Geschichte eine für die Zeit eigentümliche Wende: Der aktuelle Dezernent, Stadtrat Kretschmar gab darauf hin zur Kenntnis, dass ihm der Verkauf nicht bekannt gewesen sei. Kretschmar wies außerdem darauf hin, dass ihn „schon der Name Carlsohn […] stutzig gemacht“ haben würde.[6] Für den Bibliotheksleiter Müller war die Angelegenheit damit keine Frage der Wirtschaftlichkeit mehr, sondern eine der „politischen Zuverlässigkeit“. Sie gewann dadurch eine besondere Dringlichkeit. Das Schreiben Kretzschmars ist auf den 7. März datiert. Bereits am 9. März lag einem Brief des Leipziger Buchhändlers Carlsohn eine kleine bedruckte Karte bei, die ausführte, dass er „rein arischer Abstammung“ sei. (Hervorhebung im Original) Die Familie sei vor 150 Jahren aus Schweden eingewandert und seitdem eine Dynastie von sächsischen Lehrern und Beamten.[7]
Am 14. März 1934 beriet der Stadtrat erneut über den Fall und dabei wurde auch auf die angebliche jüdische Herkunft des Käufers aus Leipzig hingewiesen. Der Rat diskutierte daraufhin, ob er den Verkauf rückgängig machen und die bereits versandten Bücher zurückfordern solle. Doch die Rechtslage wurde als ungünstig eingeschätzt und der Vorgang deshalb zu den Akten gelegt.[8] Im Ausschuss für die Stadtbücherei und das Stadtmuseum wurde der Fall am 19. März 1934 noch einmal beraten. In der Sitzung wurde ausführlich dargelegt, in welch schlechtem Zustand die Bücher gewesen seien, die folglich zu einem guten Preis nach Leipzig verkauft worden wären. Wiederum wurde als Gegenargument die angebliche jüdische Herkunft Erich Carlsohns angeführt.[9]
Für den Leiter von Museum und Bibliothek Dr. Reinhard Müller hatte der Vorfall eine gravierende Konsequenz. Er wurde noch im selben Monat wegen „persönlicher Verfehlung“ seines Amtes enthoben. Dagegen legte er kurz darauf Beschwerde ein, die er mit einem Zitat Adolf Hitlers schloss.[10]
Kreisfachstelle für Volksbüchereiwesen und ihr Leiter Kurt Marx
Vor Ort war nun die Bibliothekarin Fr. Posern mit der Interimsleitung der Bibliothek betraut, die von einem Berater, dem Studienrat Gottlebe unterstützt wurde. In ihrer Arbeit wurden solche ehren- und hauptamtlichen Mitarbeiter*innen der Bibliotheken durch regelmäßig erscheinende „Fachzeitschriften“ beraten. Darunter etwa Der Vorposten, das amtliche Mitteilungsblatt der staatlichen Landesfachstelle für Volksbüchereiwesen Sachsen. Diese erschien monatlich, musste von allen Büchereien bezogen werden und widmete sich der weltanschaulichen Schulung. Daneben gab es Die Bücherei und die Schulungsbriefe, die nationalsozialistisches Gedankengut für die Bibliotheksmitarbeiter*innen aufbereiteten, sowie die Bücherkunde, die Neuerscheinungen zu den entsprechenden Themen besprach.
Bei politischen Fragen war außerdem die Staatliche Kreisfachstelle für Volksbüchereiwesen in Bautzen, in persona ihr Leiter Kurt Marx einzubeziehen. Dieser wies die Mitarbeiter*innen der Bibliotheken, die in seinem Zuständigkeitsbereich lagen, in einem Rundschreiben im August 1935 an, die „Säuberung“ der Bibliotheken kontinuierlich fortzusetzen.[11] Marx schrieb:
„In einer Zeit so tiefgreifender innerer Umstellung müssen wir immer wieder an jedes einzelne Buch die Frage stellen, ob es seinem ganzen Geiste nach noch für die heutige Büchereiarbeit, die einen neuen deutschen Menschen formen helfen will, geeignet ist.“
Am laufenden Band schickte Marx Listen „verbotener und unerwünschter Literatur“, die von den Bibliotheken auszusortieren waren.
Hin und wieder fand sich am Ende einer solchen Liste der Hinweis, dass ein Verbot einer Schrift wieder aufgehoben wurde und diese wieder aufzunehmen sei. Von Anfang an waren die Bibliotheken angehalten, die Schriften nicht direkt zu vernichten, sondern für einen noch zu bestimmenden Gebrauch unter Verschluss aufzubewahren.
Bei Neuanschaffungen musste die Stadt Zittau bei der staatlichen Kreisfachstelle in Bautzen um Genehmigung bitten. Marx gab dann entsprechende Rückmeldung, welche Titel bestellt werden durften, welche nicht. Beispielsweise erhielt die Stadt im November 1935 auf ihre zuvor eingereichte Liste hin die Antwort, dass einige Titel nicht genehmigt werden könnten. Dies erfolgte für gewöhnlich ohne Begründung, bzw. wurde vorausgesetzt, dass allen klar sein müsse, warum diese Titel nicht zugelassen sein würden. Nicht immer jedoch waren die Entscheidungen für alle Beteiligten nachvollziehbar. So fand sich im November 1935 unter den abgelehnten Titel auch ein Buch, das im Kern nationalsozialistische Propaganda für die Teilnahme an nationalsozialistischen Jugendorganisationen enthielt. Auf erneute Rückfrage der Stadt hin, führte Marx dann in seiner Antwort für jeden einzelnen Fall die Grundlage seiner Entscheidung aus. Bei der Propagandaschrift wies er darauf hin, dass diese „in den maßgebenden nationalsozialistischen Zeitschriften so vernichtend besprochen worden“ sei, dass er keiner Bibliothek erlauben werde, „ein solches Konjunkturerzeugnis anzuschaffen“.
Für Stadtrat Günzel ein eher unglücklicher Fall, da er unter Umständen Zweifel an seiner politischen Eignung zu wecken vermochte. In seinem Schreiben hatte deshalb vorsorglich darauf hingewiesen, dass die Literatur auf Empfehlung des Zentralverlages der NSDAP hin ausgewählt worden war. Marx wies nun seinerseits Anfang Januar 1936 alle Büchereien an, die Auswahl der Bücher zur Anschaffung nur noch mit Listen zu treffen, die durch seine Stelle zur Verfügung gestellt worden waren. Im Anschluss folgten in regelmäßigen Abständen Listen, die Anschaffungen zu verschiedenen Themenschwerpunkten nahelegten: „Bücher für die Hitler-Jugend“, Bücher für die deutsche Frau“ usw. usf.
Inzwischen war der Bestand der Volksbücherei wieder auf 9500 Bände gewachsen. Allerdings gingen die Zahlen der Leser*innen drastisch runter. Zwischen März 1934 und April 1935 hatten lediglich 280 Einwohner*innen ein Buch ausgeliehen. Da die Zahlen auch danach deutlich „unter dem Reichsdurchschnitt“ blieben, sah sich die Stadt Zittau Mitte des Jahres 1936 gezwungen, etwas zu unternehmen. Der Oberbürgermeister Walter Zwingenberger bat deshalb den Leiter der Kreisfachstelle für Volksbüchereiwesen Marx um Hilfe.[12] Dieser strebte eine Neuausrichtung der Zittauer Bibliothek an.
Grenzlandbibliothek
Der 1888 in Roßwein geborene Kurt Marx, hatte neuere Sprachen, Germanistik, Geschichte, Pädagogik studiert und 1920 das Staatsexamen für den höheren Schuldienst abgelegt. Das Amt des Leiters der Sächsischen Kreisberatungsstelle für das volkstümliche Büchereiwesen wurde 1928 in Bautzen geschaffen und ihm übertragen. Marx hatte sich bereits als Leiter der Bautzener Stadtbücherei einen Namen damit gemacht, dass er die Volksbibliothek zu neuem Glanz führen wollte.
In Orientierung am amerikanischen Büchereiwesen, das durch besonders hohe Nutzungszahlen für sich spreche, wollte er die hiesigen Bibliotheken in den Dienst der Leserpersönlichkeit stellen. Dabei hatte er Mitte der 1920er Jahre schon daran gedacht, dass die Volksbüchereien zum „Aufbau des deutschen Volkstums, der deutschen Volksgemeinschaft“ beitragen solle.[13] Damit richtete er sich dezidiert gegen einen von ihm wahrgenommenen „kulturellen Niedergang […], der sich zum einen in Kunst und Architektur bemerkbar mache und zum anderen zu einer wissenschaftlichen Spezialisierung führe, bei der gegenseitiges Verstehen nicht mehr möglich“ sei. Auch Marx arbeitete wie der Berliner Bibliothekar Wolfgang Hermann bereits vor 1933 mit Listen über nationalsozialistische Literatur, die er zur Verfügung zu stellen anstrebte.[14]
Kurt Marx sah die Volksbüchereien in der sächsischen Oberlausitz in der Rolle von sogenannten Grenzlandbibliotheken. Er war überzeugt, dass diese Einrichtungen ihre Aufgabe in der Ausbildung der Bevölkerung zum Kampf an der äußeren Grenze zur Tschechoslowakei sowie bei der innere Abgrenzung von der wendischen/sorbischen Kultur und deren Vertreter hatten. Dabei hatte er sehr klare Vorstellungen wie dieser Aufgabe nachzugehen sei. Im Oktober 1936 veröffentlichte er seine kulturpolitischen Ansichten anlässlich der „Woche des deutschen Buches“ in einem Artikel über „Grenzlandarbeit in den Oberlausitzer Büchereien“, der in den Zittauer Nachrichten, die „NS-Tageszeitung für die Oberlausitz“ erschien.[15] Darin führte er unter anderem aus:
Der Bestand der Grenzbücherei soll die Haltung pflegen, ohne die nun einmal ein Volkstumskampf nicht durchgefochten werden kann, nämlich Stolz auf das eigene Volkstum, Wehrhaftigkeit, Willensstärke, Heimattreue, Heimatkenntnis, Volksverbundenheit, Treue zum Führer, Gottesglaube, Opferbereitschaft[…].
Marx empfiehlt dabei insbesondere die schöne Literatur, den Roman und die Dichtung, denn
sie durchdringen den Menschen am sichersten mit Hilfe des Erlebnisses. Dieses aber lößt allein der Roman, die Dichtung, die Erzählung aus. […] So pflegt die Bücherei des Grenzlandes den Weltkriegsroman, den Bauern- und Heimatroman, die Romane der Bewegung und ihrer Toten, der SA, HJ usf., den Roman des Grenz- und Auslandsdeutschentums, überhaupt, die Dichtung völkischen Gehalts.
Marx, Grenzlandarbeit in den Oberlausitzer Büchereien
Und wie er sich bereits Mitte der 20er Jahre gegen Sachliteratur ausgesprochen hatte, so hieß es auch in diesem Beitrag:
Soweit belehrende Bücher (d.h. solche, die sich hauptsächlich an den Verstand wenden) eingesetzt werden, sollen Sie […] leicht verständlich sein.
In diesem Sinne gestaltete er als Leiter der Staatlichen Kreisfachstelle für Volksbüchereien in der Oberlausitz die Bibliotheken der Region und auch jene Volksbücherei in Zittau. Sein Amt hatte er bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges inne. Kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee Anfang Mai 1945 floh er in die Hansestadt Hamburg, wo er wiederum eine Anstellung in der Bibliothek erhielt. Die hierfür benötigte Bescheinigung, dass er politisch unbelastet sei, konnte er beschaffen. Seiner Personalakte ist zu entnehmen, dass er zu keiner Zeit Mitglied einer politischen Partei war.
Fazit: Die Bibliothek in der totalitären Diktatur
Im November 1936 bat die Bibliothek in einem Schreiben an Stadtrat Günzel, um die Bereitstellung größtmöglicher Summen für die Beschaffung neuer Literatur. Im Rahmen einer erneuten „Säuberung“ durch die Staatliche Kreisfachstelle waren wiederum „weit über 1000 Bücher“ entfernt worden. Der Restbestand, so hieß es in dem Schreiben, mache „einen nicht gerade überzeugenden Eindruck“.[16]
So geht es auch in den Folgejahren weiter. Die Bedeutung, die den Volksbüchereien von politischer Seite zugedacht wird, macht ihre dauerhafte Umgestaltung notwendig, da sie sich jeweils an den aktuellen Entwicklungen auszurichten hatte. Nach dem Münchner Abkommen im September 1938, in dem Großbritannien, Frankreich und Italien dem Deutschen Reich die Annexion eines Teils der Tschechoslowakei zugestanden, besetzte die Wehrmacht ab dem 1. Oktober dieses Territorium. Die Zittauer Bibliothek lag damit und vor allem nach dem am 1. September 1939 erfolgten Einmarsch in Polen nicht mehr im Grenzland. Ab 1939/40 wurde sie deshalb auf den vom Deutschen Reich begonnenen Weltkrieg wiederum grundlegend neu ausgerichtet. Dann sollte sie Widerstandskraft und Kampfgeist der Bevölkerung stärken.
Nachdem die Alliierten 1945 das Deutsche Reich niedergerungen und besetzt hatten, begannen auch in den Bibliotheken, sofern sie noch bestanden, die Aufräumarbeiten. Die auf die Verbreitung des nationalsozialistischen Gedankenguts ausgerichteten Büchereien mussten nun wiederum davon „gesäubert“ werden. Dies erfolgte in Zittau im Januar und Februar 1946 durch einen Ausschuss aus je einem Vertreter des antifaschistischen Aktionsausschusses, der KPD, der SPD, des Schulamtes und des Kulturamtes. Nachdem das Ergebnis durch einen Offizier der sowjetischen Besatzungskommandantur überprüft worden war, durften die beiden städtischen Bibliotheken Im februar 1946 wieder für die Leser*innen öffnen.
1951 wurden die beiden städtischen Bibliotheken zusammengeführt und in der Bahnhofsstraße 10/12 untergebracht. Seit 1954 trägt diese Bücherei den Namen Christian-Weise-Bibliothek Zittau. 2002 zog sie an ihren heutigen Standort im Salzhaus an der Neustadt um.
[1] Stadtarchiv Zittau, IIa-VI-b5-Nr.1-Bd.3-F.546, S. 9-9e.
[2] Ebd., IIa-VI-b3-Nr.2-Bd.10-F.542, S. 22.
[3] Ebd., S. 25.
[4] Ebd., IIa-VI-b5-Nr.1-Bd.1-F.546, S. 13.
[5] Ebd., IIa-VI-b3-Nr.2-Bd.8-F.542, S. 5.
[6] Ebd., S. 18.
[7] Ebd., S. 19.
[8] Ebd., S. 20.
[9] Ebd., S. 21.
[10] Ebd., IIe-II-Nr.650.
[11] Ebd., IIa-VI-b5-Nr.1-Bd.3-F.546, S. 56.
[12] Ebd., IIa-VI-b3-Nr.2-Bd.10-F.542, S. 57-58.
[13] Kurt Marx, Volksbücherei und Stadtbücherei. Von Stadtbibliothekar Kurt Marx“, in: Bautzner Nachrichten, vom 9. Mai 1925.
[14] Ronny Langer, Der Nationalsozialismus und das Potenzial der Volksbücherei. Das Beispiel der Staatlichen Kreisfachstelle für Büchereiwesen Bautzen, in: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie, 4 (2016), S. 213-223, hier S.216. <online>
[15] Kurt Marx, Grenzlandarbeit in den Oberlausitzer Büchereien, in: Zittauer Nachrichten. Die NS-Tageszeitung für die Oberlausitz, vom 28. Oktober 1936, S. 4, der Artikel findet sich im Original als press cut im Stadtarchiv Zittau, IIa-VI-b5-Nr.5-Bd.1-F.144, o.S..
[16] Stadtarchiv Zittau, IIa-VI-b5-Nr.2-Bd.2-F.546, S. 78.