Kein Einzelfall – Im Gedenken an den Anschlag vom 19. Februar 2020 in Hanau
Am späten Abend des 19. Februar 2020 erschoss ein Mann in Hanau aus rassistischen Motiven neun Menschen.[1] Sein erstes Opfer, Kaloyan Velkov, war 33 Jahre alt und Vater eines Kindes. Er arbeitete in der Bar „La Votre“ am Heumarkt, in der er auch ermordet wurde. Vor der nahe gelegenen Shisha-Bar „Midnight“ stand der 34-jährige Fatih Saraçoğlu beim Rauchen. Er war erst wenige Jahre zuvor aus Regensburg nach Haunau gezogen. Saraçoğlu und den Besitzer des „Midnight“, den 29-jährigen Sedat Gürbüz erschoss der Täter ebenfalls. Vili-Viorel Păun, ein 22 Jahre alter Kurierfahrer, wurde vom Attentäter in seinem Auto beschossen und nahm anschließend die Verfolgung auf. Vergeblich wählte er unterwegs um 21:57 Uhr, 21:58 Uhr und 21:59 Uhr den Notruf, doch auf der Polizeistation Hanau I nahm niemand ab. Im Stadtteil Kesselstadt bemerkte der Täter Păun und erschoss ihn auf einem Parkplatz.
In einem Kiosk am Kurt-Schumacher-Platz tötete er anschließend den 37-jährigen Speditions- und Hausmeisterunternehmer Gökhan Gültekin. Durch die Hand des Täters starben hier auch die 35-jährige Mercedes Kierpacz, eine Mitarbeiterin der angrenzenden „Arena Bar & Café“, die an dem Abend aber nur eine Pizza für ihrer Kinder holen wollte. Getötet wurde in dem Kiosk auch Ferhat Unvar, ein 23 Jahre alter Gas- und Wasserinstallateur, der sich hier mit Freunden getroffen hatte. Im angrenzenden Lokal, „Arena Bar & Café“, wurden außerdem der 21 Jahre alte Said Nesar Hashemi, der in dem Lokal mit seinem Bruder und Freunden ein Fußballspiel schaute, sowie der 22-jährige Hamza Kurtović, der gerade seine Lehre zum Lageristen abgeschlossen hatte, erschossen.[2]
Die Leben der neun Opfer vom 19. Februar sind für immer verloren. Unter dem Motto #saytheirnames wird eine Erinnerung an die grausame Tat gefordert, die die Opfer als Menschen sichtbar macht, statt den Täter in den Vordergrund zu rücken. Mehr zu ihnen findet ihr auf der Website der Amadeu-Antonio-Stiftung hinter jedem Namen, den wir hier verlinkt haben.
Was aber können wir tun, damit so eine Tat nie wieder geschieht?
Zunächst ist es wichtig an diesen Terroranschlag und die Menschen, die ihr Leben verloren haben, zu erinnern. So halten wir dieses schreckliche Ereignis in unserem Bewusstsein und gemahnen uns, dass wir aktiv dafür Sorge tragen müssen, dass sich so etwas nicht wiederholt. Die Erinnerung allein verhindert zwar keine Anschläge. Sie verändert aber das gesellschaftliche Klima, in dem wir einander begegnen. Das Bewusstsein für die gesellschaftliche Stimmung ist von entscheidender Bedeutung, wenn wir aktiv Prävention leisten wollen. Wir müssen deshalb auch versuchen, uns Klarheit darüber zu verschaffen, was das Ereignis begünstigt haben könnte. Wir müssen uns klar sein, dass es sich nicht um einen Einzelfall handelt.
Die Tat geschah aus rassistischen Motiven. Der Täter mag vergleichsweise extreme Ansichten gehabt haben, hat auch krankhaft an Wahnvorstellungen gelitten. Aber mindestens in Teilen sind seine Anschauung in unserer Gesellschaft durchaus verbreitet. Das zeigt zum Beispiel die Wahl der Tatorte. Diese hatte der Täter ganz bewusst gewählt. Er hatte sie sogar vor der Tat besucht. Dass seine Wahl auf sogenannte Shisha-Bars gefallen ist, hat auch damit zu tun, dass diese Orte in der Öffentlichkeit stigmatisiert werden. Die medial oft befeuerte Verknüpfung von Shisha-Bars mit kriminellen Machenschaften und dem Migrationshintergrund ihrer Besitzer:innen und Besucher:innen, trug und trägt noch zu einer Stimmung bei, die sie zu Zielen rechter Hetze und Gewalt werden lässt. Wiederum motivierte der Anschlag von Hanau scheinbar andern Orts Menschenfeinde zu Angriffen auf ähnliche Einrichtungen. In Döbeln kam es am 21. Februar 2020 zu einer Brandstiftung in unmittelbarer Nähe einer Bar und eines Döner-Imbiss. In Stuttgart schossen Unbekannte auf eine Bar und tags darauf in Heilbronn auf ein Haus, als der Generalsekretär des DITIB dort eintraf.[3]
Bezeichnend ist auch, dass Bekannte des 1977 geborenen Täters ihm die Tat nicht zugetraut hätten. Eine „Mitschülerin sagte, sie habe [den Täter] als clever, aber zurückhaltend erlebt. […] Eine andere Person aus dem Umfeld [des Täters] sagte ZEIT ONLINE, dieser sei als Schüler nicht als rechtsradikal aufgefallen.“[4] Doch in den zwei Jahrzehnten vor der Tat sind zahlreiche Momente zu finden, in denen sich eine Steigerung ins Wahnhafte beim Täter feststellen ließ. Das ging so weit, dass er von einem Waffen- und Kampftraining im Ausland, für die er sich wiederholt angemeldet hatte, ausgeschlossen wurde, weil er selbst den Organisatoren solch kruder Events seltsam vorgekommen sei. Die hiesigen Behörden sahen dagegen offenkundig keinen Handlungszwang. Der Täter hatte zwei Waffenscheine inne, obwohl er mehrfach durch paranoide überzeichnete Strafanzeigen auffällig geworden war. Die erste im Jahr 2002, die letzte stellte er 2019 beim Generalbundesanwalt. Im selben Jahr erhielt er den Europäischen Feuerwaffenpass. Die letzte Anzeige war von denselben menschenfeindlichen Positionen durchzogen, die sich in Auszügen auch in jenem Pamphlet wiederfanden, mit dem er seinen Anschlag zu rechtfertigen suchte. Zum Tatzeitpunkt besaß dieser Mensch legal drei Waffen.
Die Kette des Versagens von Behörden reicht aber auch über die Tat hinaus. Notrufe, die nicht durchkommen. Verhalten der am Einsatz beteiligten Beamten gegenüber betroffenen und Angehörigen. Die Anordnung und Durchführung von Obduktionen an Opfern und die Störung der postmortalen Würde. Der Umgang mit dem Vater des Täters während und nach der Tat. Manches davon mag mit fehlender und mangelhafter Infrastruktur erklärt werden können, anderes mit der Überforderung in der unübersichtlichen Situation zumindest nachvollziehbar erscheinen. Aber in der Gesamtschau stellt sich unweigerlich der Eindruck ein, dass Sensibilität für die Anzeichen einer bevorstehenden rassistischen Gewalttat, für die Bedürfnisse der von der Tat betroffenen Menschen weitgehend fehlten und noch fehlen sowie dass auch unter den Mitarbeiter:innen der Behörden verbreitete rassistischen Einstellungen einen Anteil gehabt haben werden.[5]
Verbreitete rassistische Einstellungen und das Behördenversagen müssen uns auch weiterhin beschäftigen. Ein Jahr nach Hanau erlebten wir den hessischen Polizeiskandal. Am 15. Juni 2021 wurde in der Innenausschuss-Sitzung im hessischen Landtag bekannt gegeben, dass insgesamt 49 Polizisten aus verschiedenen Bereichen in rechten Chats beteiligt waren. In derselben Sitzung bestätigte der hessische Innenminister Peter Beuth auch, dass 13 der 19 rechtsextremen Polizeibeamten, die einer in dem Zusammenhang aufgelöstem SEK-Einheit angehörten, am 19. Februar 2020 in Hanau im Einsatz waren.
Wie schwer sich unsere Gesellschaft jedoch mit der Aufarbeitung solcher strukturellen Missstände tut, konnten wir erst dieser Tage wieder miterleben. Polizisten aus Hessen waren auch in den NSU 2.0 Komplex involviert. Und vor drei Tagen, am 16. Februar 2022 begann vor dem Landgericht Frankfurt am Main der Prozess gegen e i n e n Angeklagten, der über 80 Drohschreiben mit rassistischem, sexistischem, antisemitischem und volksverhetzendem Inhalt an Seda Başay-Yıldız, ldil Baydar, Anne Helm, Martina Renner, Janine Wissler und Hengameh Yaghoobifarah und andere Menschen verschickte, die für ihr Engagement gegen Rassismus und Antisemitismus bekannt sind. Das sich die Anklage gegen einen einzelnen Täter richtet unterlässt die Verfolgung der an den Straftaten beteiligten Personen, die zum Teil nach wie vor aktiv im Dienst des Staates stehen, und beugt der Aufklärung der Strukturen vor, die als NSU 2.0-Komplex bezeichnet werden.[6]
Der Fokus auf den Einzeltäter mag im Fall von Hanau näher liegen. Doch wer verstehen will, wie es dazu kommen konnte und wie sich vielleicht verhindert lässt, dass sich etwas ähnliches wiederholt, muss den größeren Zusammenhang in den Blick nehmen. Hanau war nach dem Mord an Walter Lübke am 1. Juni und dem Anschlag auf die Synagoge in Halle an der Saale am 9. Oktober 2019 nur der verheerendste in einer ganzen Reihe rechter Terroranschläge der vergangenen Jahre. Er ist damit nur Teil eines gesamtgesellschaftlichen Problems. [7]
PS. Neben dem Hinweis auf die wichtige Kampagne 19. Februar Hanau, die das Ereignis und seine Folgen aus Sicht der Betroffenen aufarbeitet, empfehlen wir zu Vertiefung den Podcast „190220 – Ein Jahr nach Hanau“, ein Spotify Original der Journalistin Sham Jaff und Reporterin Alena Jabarine. Sie rekonstruieren die Tat mit Hilfe der Angehörigen, werfen einen Blick in die Akten und legen den Finger in die noch offenen Wunden. Sie sprechen über das Versagen der Behörden, während und nach der Tat, über die Schwerfälligkeit der Ämter bei der Unterstützung und Hilfe, und selbst beim Erkennen gravierendster Probleme – die Kälte der Bürokratie. Über das unverzeihliche Fehlverhalten der Sicherheitskräfte in der Tatnacht, über die Unwilligkeit und Schludrigkeit von Staatsanwaltschaft und Polizei bei den Ermittlungen, bei der Verfolgung von Spuren, bei dem Ernstnehmen neuer Bedrohungslagen, bei unserem Schutz. Über die wiederkehrenden Respektlosigkeiten und herabwürdigenden Gesten von Beamt:innen, Vertreter:innen von Behörden und Polizei gegenüber Angehörigen und Überlebenden und selbst gegenüber den Toten. Und über den Normalzustand von institutionellem Rassismus.
[1] Für die Motivation der Täter spielt nicht selten auch der Geltungsdrang eine gewichtige Rolle, dem mit der Nennung des Namens Vorschub geleistet wird. Besonders problematisch ist das, wenn man sich bewusst macht, dass im Verhältnis dazu die Namen der Opfer und der Angehörigen den Wenigsten im Gedächtnis bleiben.
[2] Der Täter ermordete später außerdem mutmaßlich seine eigene Mutter, die 72-jährige Gabriele Rathjen, bevor er sich selbst erschoss.
[3] Im Podcast Clanland – Schrecklich nette Familiengeschichten (Link), gehen Marcus Staiger und Mohamed Chahrour gesellschaftlich verbreiteten Vorstellungen über „Clans“ als sozialer Strukturen von Menschen mit Migrationshintergrund und deren vermeintlicher Überlagerung mit kriminellen Milieus auf den Grund. Dabei beleuchten sie in Folge 8 insbesondere die Rolle der Medien und in Folge 9 jene von Polizei und Rechtsstaat bei der Konstruktion und Zementierung solcher Anschauungen.
[4] Link zur Quelle Im Zitat ist der Name des Täters durch diese Bezeichnung in eckigen Klammern ersetzt.
[5] Im Detail ist die Kette des Versagens von der Initiative 19. Februar Hanau hier ausgearbeitet.
[6] Erklärung von Seda Başay-Yıldız, ldil Baydar, Anne Helm, Martina Renner, Janine Wissler und Hengameh Yaghoobifarah abgegeben anlässlich des Prozessauftakts gegen den Angeklagten A. M. am 16. Februar 2022 vor dem Landgericht Frankfurt. (Link Bild 1, Link Bild 2)
[7] Eine Dokumentation der Todesopfer rechter Gewalt im Bundesgebiet seit 1990 findet sich auf der Seite der Amadeu-Antonio-Stiftung. (Link)