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MITZVAH

Vergessen, majestätisch, überwuchert, gespenstisch,

verlassen…

Das sind Worte, die ich schon oft gehört habe, um den Jüdischen Friedhof Görlitz zu beschreiben. Aber was ist er wirklich? Fangen wir mit der Vorgeschichte an:

Das Grundstück für den jüdischen Friedhof an der Biesnitzer Straße wurde am 30. Oktober 1849 von der neu gegründeten jüdischen Gemeinde in Görlitz erworben. Viele Einheimische wissen nicht, dass es Juden in Görlitz seit dem späten 13. Jahrhundert bis zur Übernahme des Territoriums durch die Preußen im Jahr 1847 verboten war, dort zu leben – ein Zeitraum von etwa 450 Jahren! Die Gemeinde, die sich in dieser zweiten Welle jüdischen Lebens in Görlitz bildete, trug über die Maßen zur Gemeinschaft bei. Ihre Mitglieder waren Industrielle, Ärzte, Rechtsanwälte, Textilhändler, und die Stadt Görlitz wäre ohne den Beitrag der jüdischen Gemeinde nicht so gewachsen, wie sie es um die Jahrhundertwende tat. Dieser Reichtum wird besonders auf dem Jüdischen Friedhof Görlitz deutlich, der unter den jüdischen Friedhöfen einzigartig ist, da viele der aufwendigen Grabmäler im Gartenstil angelegt wurden, wie man ihn von christlichen Friedhöfen dieser Zeit kennt.

In vielen Teilen Deutschlands und Europas ist ein jüdischer Friedhof die letzte Spur einer zerstörten europäischen jüdischen Gemeinde. Görlitz ist eine Stadt, die in vielerlei Hinsicht als Glücksfall gilt: Sie ist berühmt dafür, die größte noch unzerstörte Stadt in ganz Deutschland zu sein. Sie hat eine unberührte, wunderschöne Altstadt, die dank deutscher Steuergelder und Spenden eines geheimnisvollen Spenders restauriert wurde. Sie ist einer der wenigen Orte in ganz Deutschland, an dem man die historische Entwicklung der Architektur von einer Epoche zur nächsten sehen kann (während ich dies schreibe, kann ich von meinem Fenster aus fünf verschiedene Beispiele architektonischer Epochen sehen). Und dieses Glück scheint sich auch auf die jüdische Geschichte ausgewirkt zu haben: die Synagoge, die Trauerhalle und der Friedhof sind ebenfalls erhalten geblieben. Die Synagoge wurde, wie Sie vielleicht wissen, nach Jahren der Vernachlässigung und Vernachlässigung prächtig renoviert. Im Jahr 2021 wurde sie als Kulturforum und Veranstaltungszentrum wiedereröffnet. Die Trauerhalle mit ihrem majestätischen Buntglasfenster mit Davidstern und den schönen, verblassten Details jüdischen Lebens steht noch, wird aber leider von der Stadt Görlitz als Lagerhalle genutzt – obwohl es sich um ein Gebäude von großer historischer Bedeutung für die Stadt Görlitz und die Region handelt.

Und dann haben wir noch den Friedhof. Ein Name kann täuschen – auch wenn er „Jüdischer Friedhof Görlitz“ heißt, ist vielen nicht bewusst, dass dieser Friedhof für die jüdischen Menschen nicht nur in Görlitz, sondern in der ganzen Region von großer Bedeutung war.

Mit seinen 783 Grabstellen war der Görlitzer Jüdische Friedhof viele Jahre lang der einzige jüdische Friedhof in der Region. Neben den vielen Görlitzer jüdischen Bürgern sind hier auch Juden aus Weißwasser, Bad Muskau, Zittau, Wiegandsthal (heute Pobiedna, Polen), Lauban (heute Luban, Polen), Marklissa (heute Lesna, Polen), Penzig (heute Piensk, Polen) bestattet. Das zeigt uns, wie wichtig Görlitz als regionales Zentrum jüdischen Lebens war. Sollte ein Friedhof, der diese Geschichte widerspiegelt, nicht mehr sein als nur ein romantisierter, vergessener Ort?

Der Jüdische Friedhof Görlitz ist ein sehr beliebter Ort für einen Nachmittagsspaziergang für die Bewohner der Südstadt. In den Köpfen vieler Görlitzer wird er wie ein von der Zeit vergessener Ort behandelt, einer dieser im Volksmund so genannten „Lost Places“. Doch er ist alles andere als ein verlorener Ort. Und wenn man sich nur die Zeit nähme, nach den Hinweisen zu suchen, die uns das sagen, würde man es erkennen. Es gibt Aktualisierungen, die an bestimmten Gräbern vorgenommen wurden, zum Beispiel die Ersatztafel für Fritz Hannes, der an der Spanischen Grippe starb. Seine ursprüngliche Bronzetafel wurde von den Nazis gestohlen (zusammen mit allen anderen Bronze- und Metallornamenten auf dem Friedhof), und diese neu geschaffene Steintafel wurde von seiner Enkelin, Judi Hannes Mendelsohn aus Boca Raton, Florida, Anfang des Jahrtausends angebracht. Oder der Zusatz „Berta Loewy in Auschwitz ermordet“ auf dem Grabstein von Richard Loewy (der 1941 in Görlitz starb, nachdem ihm Medikamente verweigert worden waren), der von der

Tochter des Paares, Gerda Loewy Ulmer aus Sydney, Australien, hinzugefügt wurde. Wenn ich mit jüdischen Überlebenden und ihren Nachkommen spreche, sagen sie einhellig: Der Jüdische Friedhof Görlitz ist für sie der wichtigste Ort in dieser Stadt. Und viele sind sehr enttäuscht, wenn sie bei ihrem Besuch feststellen, dass der Friedhof einem Dschungel gleicht (besonders in den warmen Frühlings- und Sommermonaten). Einige Gräber, darunter auch die ihrer Familien, sind deshalb nur sehr schwer zugänglich.

Als ich in den ersten Monaten des Jahres 2020 mit meinem 2-jährigen Sohn Aidan begann, Grabstätten für Familien jüdischer Nachkommen zu reinigen, war ich wütend. Wie konnte eine Gemeinde zulassen, dass ein Ort von solch historischem Wert so überwuchert wurde, dass Grabsteine umstürzten, dass einige Gräber ganz verschüttet wurden? Sollte nicht zumindest die heutige Gemeinde, die Nachkommen derer, die das Dritte Reich angeheizt haben, für die Pflege dieses heiligen Ortes verantwortlich sein, als Schuld gegenüber den Opfern dieses Regimes? Der Versuch zu verstehen, wer zu verstehen, wer für diese Situation verantwortlich ist, erwies sich als eine sehr komplizierte

Als ich in den ersten Monaten des Jahres 2020 mit meinem 2-jährigen Sohn Aidan begann, Grabstätten für Familien jüdischer Nachkommen zu reinigen, war ich wütend. Wie konnte eine Gemeinde zulassen, dass ein Ort von solch historischem Wert so überwuchert wurde, dass Grabsteine umstürzten, dass einige Gräber ganz verschüttet wurden? Sollte nicht zumindest die heutige Gemeinde, die Nachkommen derer, die das Dritte Reich angeheizt haben, für die Pflege dieses heiligen Ortes verantwortlich sein, als Schuld gegenüber den Opfern dieses Regimes? Der Versuch zu verstehen, wer zu verstehen, wer für diese Situation verantwortlich ist, erwies sich als eine sehr komplizierte Aufgabe. Die Antwort liegt in der Kluft zwischen den historischen, rechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Aspekten des Problems verborgen. Die Frage nach dem rechtlichen Eigentum an jüdischen Friedhöfen in Europa trägt zur Komplexität der Angelegenheit bei, und die Antwort fällt von Ort zu Ort unterschiedlich aus. Auch in Görlitz ist das so.

Nach dem Ende des Dritten Reiches lebten laut einem amtlichen Register vom Juni 1946 22 jüdische Personen in Görlitz, die meisten von ihnen kamen aus anderen Teilen des jetzt nicht mehr existierenden Staates Niederschlesien hierher. Die meisten dieser jüdischen Menschen blieben nicht in Görlitz. Wohin sie alle gingen, kann ich heute nicht mehr sagen. Da es hier keine jüdische Gemeinde mehr gab, ging der jüdische Friedhof wieder in den Besitz der jüdischen Gemeinde in Dresden über. Da diese Gemeinde so viele jüdische Grundstücke erworben hatte, war es finanziell unmöglich, sie alle so früh zu unterhalten. So wurden sowohl die Synagoge als auch die Trauerhalle von der Jüdischen Gemeinde in Dresden von der Stadt Görlitz gekauft, die beide noch heute im Besitz der Stadt sind. Die städtische Friedhofsverwaltung unter der Leitung von Eveline Mühle hat sich um die Instandhaltung des Jüdischen Friedhofs bemüht. Sie hat einen übersichtlichen Hauptweg angelegt – auch wenn das Problem besteht, dass viele Grabstellen aufgrund des derzeitigen Bewuchses und der in den 1950er Jahren angelegten Umzäunung der Anlage kaum zugänglich sind. Das Team der Friedhofsverwaltung hat bewundernswerte Arbeit geleistet, um den jüdischen Friedhof hier zu pflegen, aber ich weiß, dass wir als Gemeinde mehr tun können, um sie bei dieser Aufgabe zu unterstützen. Aus diesem Grund habe ich das Mitzvah-Projekt ins Leben gerufen.

Im Sommer 2022 bewarb ich mich um einen Zuschuss aus dem Simul Mitmach Fund ReWir, um ein groß angelegtes Aufräum- und Dokumentationsprojekt auf dem Jüdischen Friedhof Görlitz durchzuführen. Auch der Freistaat Sachsen hielt das für eine gute Idee und hat mein Projekt ausgewählt. Ein paar Monate später bekamen wir zusätzliche finanzielle Unterstützung von der PfD Görlitz, um dieses Projekt zu fördern. Es läuft wie folgt: Im Juni 2023 werden wir mit Phase 1 des Projekts Mitzvah beginnen. Vom 5. bis 9. Juni 2023 werden internationale Teams aus Schülern und Jugendlichen (Polen, Deutsche, Tschechen und Amerikaner) zu uns nach Görlitz kommen, um gemeinsam mit den Gärtnern und Landschaftsexperten der Görlitzer Friedhofsverwaltung die Gehwege und Grabstätten zu reinigen. Wir hoffen, dass wir in Zukunft auch Grabstätten instand setzen können, die sich derzeit in einem sehr traurigen Zustand befinden. Im Mai 2023 habe ich einzelne Informationsmaterialien über jeden über jeden Abschnitt des Friedhofs vorbereiten, damit die Teams, die in diesen Abschnitten arbeiten, Bescheid wissen: Wer wurde hier begraben? Was ist ihre Geschichte? Wo ist ihre Familie heute/was ist passiert? Ich hoffe auch, dass unsere Freiwilligen neue Dinge über diesen Ort entdecken werden: Mehr Fragen werden uns zu mehr Antworten führen. Außerdem freue ich mich sehr auf die Zusammenarbeit mit unserer wunderbaren Gemeinde in Dresden, sowohl mit der Jüdischen Gemeinde Dresden als auch mit Rabbinerin Esther Jonas-Maertin, die mit unseren Freiwilligen über jüdische Bestattungs- und Beerdigungstraditionen und die schöne Symbolik sprechen wird, die wir in der Architektur dieses großartigen Friedhofs finden.

Zwei Wochen später werden mehr als 60 jüdische Holocaust-Überlebende der zweiten Generation und ihre Familien aus allen Kontinenten außer der Antarktis nach Görlitz kommen, um die zweite Jüdische Gedenkwoche Görlitz/Zgorzelec zu feiern. Zum Abschluss von Phase I des Projekts Mitzvah werden diese Teams die Nachkommen auf Führungen durch den Jüdischen Friedhof in Görlitz begleiten und den jüdischen Familien zeigen, welche Arbeit sie geleistet haben und was sie dabei gelernt haben.

Phase II des Projekts Mitzvah wird im Jahr 2024 stattfinden, wo mein Team von der Hillerschen Villa plant, jüdische Friedhofshistoriker aus Halberstadt hinzuzuziehen, um eine vollständige Dokumentation jedes der mehr als 700 Gräber zu erstellen – eine Forschungsmission, die noch nie auf diesem Görlitzer Friedhof durchgeführt wurde. Im Jahr 2025 folgt Phase III, in der diese Informationen in etwas Kreatives umgewandelt werden – höchstwahrscheinlich eine Online-Plattform, ähnlich dem Mazewa-Projekt auf dem Jüdischen Friedhof Zittau.

Wie zivilisiert eine Gesellschaft ist, lässt sich oft daran ablesen, wie sie mit ihren Toten umgeht. Ich hoffe, dass wir durch das Projekt Mitzvah eine Zusammenarbeit in unserem Land schaffen können, die in Görlitz und Zgorzelec ein Feuer entfacht, um diesen Friedhof von regionaler, nationaler und internationaler historischer Bedeutung zu schützen. Ich hoffe, dass unsere Besucher diesen historischen und heiligen Ort in Zukunft mit einem Verständnis dafür verlassen, wie wichtig er für die vielen jüdischen Menschen ist, die heute in der Diaspora in der ganzen Welt leben.

Kontakt: lauren@jrwgoerlitz.com

LL

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Ausstellung eröffnet

Endlich war es soweit – wir konnten gemeinsam die Ausstellung „Lesen und Schreiben mit Anne Frank“ eröffnen.

Der Herrnhuter Kirchensaal war gut gefüllt, Schüler und Schülerinnen der Johann-Amos-Comenius Schule und der evangelischen Zinzendorfschulen Herrnhut waren zu Gast, aber auch einige weitere Interessierte & Sponsoren des Vorhabens.

In einer gemeinsamen Andacht zur Ausstellungseröffnung dachten wir an Anne Frank – darüber hinaus sangen wir gemeinsam und erlebten eine ganz besondere Projektpräsentation. Jugendlichen beider Schulen präsentierten ihre Theater-Musik-Vorführung zu Anne Frank, welche im Rahmen einer Projektwoche entstanden.

Dabei ein ganz herzliches Dankeschön an alle Beteiligten.

Einen besonderen Dank galt auch „Dürninger Textildruck“ – sie sponsorten gut siebzig T-Shirts, welche alle engagierten Schüler und Schülerinnen erhielten. Viele von ihnen sind in den nächsten vier Wochen als Peer Guide im Einsatz – sie begleiten ihre Mitschüler und Mitschülerinnen in der Ausstellung. Über 20 Führungen werden stattfinden. Aber auch vielen Dank an die weitere Sponsoren und Unterstützer des Vorhabens, nur so wurde unser Vorhaben ein Gemeinschaftsprojekt – hier finden Sie alle Sponsoren.

Und auch weitere Veranstaltungen sind zum Thema Anne Frank geplant – kurz und knapp hier ein Überblick:

  • Poetry Slam mit Anne Frank, Montag 12.6. 13.30/19.00Uhr
  • Denke ich an Anne Frank, Montag, 19.6. um 19.00h
  • Abschied von Anne, Donnerstag 29.6. um 14.00h

Ausführliche Informationen zu den Veranstaltungen und dem Ausstellungsvorhaben gibt es hier.

Wir freuen uns auf die kommenden Tage – mit Ihnen & Euch, sowie mit Anne Frank in Herrnhut.

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Denke ich an Anne Frank…

Anne-Frank-Tagebuch zum Leihen, Lesen & Besprechen

Im Juni wird eine Ausstellung über Anne Frank zu Gast im Herrnhuter Kirchensaal sein. Diese stellt die Begeisterung des jüdischen Mädchens fürs Schreiben und Lesen in den Mittelpunkt. Im Rahmen des Begleitprogramms wird am 19. Juni ein gemeinsamer Lese- und Austausch-Abend veranstaltet. Dieser findet um 19.00 Uhr in der Johann-Amos-Comenius-Schule Herrnhut statt. Alle Interessierten sind herzlich eingeladen, in diesem Kreis Gedanken über Anne Frank, ihre Erlebnisse und ihre Tagebuch-Einträge miteinander zu teilen.

Um sich bereits im Vorfeld mit Anne Frank und ihren Aufzeichnungen auseinanderzusetzen, besteht die Möglichkeit, das Tagebuch der Anne Frank kostenfrei auszuleihen. Erhältlich sind Leihexemplare ab dem 24. April in der Comenius-Buchhandlung Herrnhut. Dazu ist nur die Angabe der eigenen Kontaktdaten notwendig (Vor- und Familienname, Telefonnummer, Anschrift). Zurückzugeben sind die geliehenen Bücher dann zur eigentlichen Veranstaltung am 19. Juni um 19.00 Uhr (Eintritt frei).

Die kompakte Ausstellung wird vom 5. bis 29. Juni im Herrnhuter Kirchensaal gastieren. Die Beschäftigung mit Anne Frank ist ein gemeinsames Vorhaben der Herrnhuter Brüdergemeine, der Evangelischen Zinzendorfschulen, der Herrnhuter Diakonie, der Comenius-Buchhandlung und der Hillerschen Villa.

Anne Franks Tagebuch-Aufzeichnungen berühren bis heute Menschen aller Generationen. Ihre Beobachtungen, ihr Blick auf das Leben, auf die Natur und den Glauben können Denkanstöße und Impulse für das eigene Leben geben. Alle Beteiligten freuen sich über reges Interesse an den Veranstaltungen rund um die Ausstellung und hoffen auf einen lebendigen Austausch.

Weitere Informationen erhalten Sie unter www.anne-frank-herrnhut.info.

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Deutsch-tschechische Radtour – Gemeinsam Erinnern an das Ende des 2. Weltkrieg im Dreiländereck

Am Sonntag, den 7. Mai saß die Netzwerkstatt im Sattel! Zusammen mit etwa 40 TeilnehmerInnen, die sich uns auf einer deutsch-tschechischen Radtour durch das Dreiländereck angeschlossen haben. Die Veranstaltung fand anlässlich des Endes des 2. Weltkriegs statt. Auf der geführten Tour von Chrastava nach Zittau wurden wir von den Historikern Ivan Rous vom Museum in Liberec und Felix Pankonin von der Hillerschen Villa begleitet. Das Hauptthema waren die Arbeits- und Konzentrationslager in unserer Region.

Wir sind der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, dem Nordböhmischen Museum in Liberec und der Organisation Post Bellum sehr dankbar, dass sie diese einzigartige Veranstaltung in ihrem ursprünglichen Format unterstützt haben.

Die Hillersche Villa plant, diese Veranstaltung regelmäßig in verschiedenen Variationen zu realisieren, so dass wir uns freuen, Sie spätestens in einem Jahr wieder im Sattel zu sehen!

Einen ausführlichen Bericht zu dem Tag finden Sie hier:

RADTOUR im Dreiländereck – 8.5.2023

Ein kurzes Video führt Sie durch den Tag hier:

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Gemeinsam entdeckt: Anne Frank die Schriftstellerin

Vom 25. bis 28. April trafen sich zwanzig Schüler und Schülerinnen der evangelischen Zinzendorfschulen und der Joahnn-Amos-Comenius Schule Herrnhut im IBZ Ostritz zu einer besonderen Projektwoche. Sie stand unter dem Thema „Geschichten von Anne Frank“. Gemeinsam erarbeiteten die Jugendlichen ein Theaterstück, basierend auf drei Kurzgeschichten der Schriftstellerin Anne Frank. Die jungen Menschen spielten dabei nicht nur Theater, sondern erarbeiteten eigene Requisiten und erschufen eine eigene musikalische Umsetzung.

Dabei wurden sie von engagierten Lehrern und Lehrerinnen der beiden Schulen angeleitet. Außerdem sorgten zwei Musiker des Vereins Philmehr aus Görlitz für musikalische Unterstützung, so entstanden durch Improvisation verschiedene musikalische Stimmungen, welche den Soundtrack für das Theaterstück bilden.

Neben den Arbeiten in den drei Werkstattgruppen (Musik, Theater, Kunst) stand die Begegnung zwischen den beiden Schulformen im Mittelpunkt. Während sich die Schüler und Schülerinnen beider (gegenüberliegenden) Herrnhuter Einrichtungen im Schulalltag nur sehr selten treffen, war es in diesen vier Tagen anders. So wurde gemeinsam gespielt, gesungen und auch die Gegen rund um die Klosteranlage erkundet.

Die Beschäftigung mit Anne Frank hat dieses Jahr einen besonderen Hintergrund. Vom 5. bis 29.6. wird im Kirchensaal Herrnhut die Wanderausstellung „Lesen und Schreiben mit Anne Frank“ zu sehen sein. Diese Ausstellung richtet sich dabei an junge Schüler und Schülerinnen, sowie alle Interessierte an Anne Frank und ihrer Begeisterung für Literatur.

Am Montag, den 5. Juni um 10.30h wird die Ausstellung von Schülern und Schülerinnen beider Herrnhuter Schulen eröffnet. Hier werden auch die Ergebnisse der Ostritzer Begegnungstage präsentiert. Wir freuen uns über Ihr Interesse und laden Sie schon jetzt hierfür ein. Weitere Informationen erhalten sie unter www.anne-frank-herrnhut.info

Zum Hintergrund: Bereits seit 2013 veranstalten die beiden Herrnhuter Schulen die Begegnungstage in Ostritz, sie stehen dabei für ein gemeinsames Lernen, von- und miteinander. Organisiert und umgesetzt werden diese Tage von der Hillerschen Villa und dem Internationalem Begegnungszentrm Ostritz.

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„Vergessene Orte“ – hier bin ich zu Hause!

Unter diesem Motto fand am Samstagnachmittag, 22. April, in Polevsko bei Nový Bor die Präsentation des deutsch-tschechisches Projekts „Vergessene Orte“ statt.Mehr als 80 Interessierten kamen, um einen 30-minütigen Film zu sehen, der von den Teilnehmern des Workshops im Herbst letzten Jahres gedreht wurde. Darin wurden auf originelle Weise die Erinnerungen dreier Zeitzeuginnen an die Zeit (nicht nur) gegen dem Ende des Zweiten Weltkriegs festgehalten.Das deutsch-tschechisches Programm wurde mit einem gemeinsamen Spaziergang durch das Dorf Polevsko fortgesetzt – mit den Zeitzeuginnen und alten historischen Fotos. Nette und freundchafliche Atmosphäre hat ein tolles Wetter ergänzt…..Wir möchten uns bei allen Teilnehmern und Interessierten für ihre Unterstützung bedanken!(Termin für den nächsten Workshop „Vergessene Orte“: 19.-22.10.2023)

horskyspolek.eu, www.hillerschevilla.de

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Das Ende des Zweiten Weltkrieges im Dreiländereck | Konec 2. světové války v Trojzemí

DEUTSCH-TSCHECHISCHE RADTOUR | ČESKO-NĚMECKÁ CYKLOJÍZDA

(🇨🇿 pod německým textem)

Anlässlich des 78. Jahrestages der bedingungslosen Kapitulation der Deutschen Wehrmacht, laden wir zu einer historisch geführten Radtour durch das Dreiländereck ein. In Begleitung von Historikern erkunden wir diesseits und jenseits der Grenze Orte aus dieser Zeit.

Im Rahmen der Fahrt machen wir am Dreiländereck-Punkt eine Pause, um mit euch ins Gespräch zu kommen, was der 8. Mai 1945 aus dt. und cz. Perspektive bedeutet. Dieser Ort eignet sich perfekt für ein gemeinsames Picknick – also bringt eine Decke und etwas zum Essen und Trinken mit.

Das Programm ist in mehrere Etappen aufgeteilt, an denen beliebig teilgenommen werden kann.

Optional: 8:30 Uhr – Markt, Zittau: Anreise mit dem Rad nach Chrastava, ca. 18 Km

9:45 Uhr – Bhf., Chrastava: Treffpunkt aller Teilnehmer*innen der hist. geführten Radtour (ca. 18 Km)

10:00 Uhr: Beginn der historisch geführten Tour zum Dreiländerpunkt

13:00 Uhr – Dreiländerpunkt: Picknick und Austausch zum Thema 8. Mai in DE und CZ

ca. 14:30 Uhr: Beginn der hist. geführte Radtour durch Zittau

ca. 16:00 Uhr – Markt, Zittau: Ende der Veranstaltung

Rot: optionale Anreise mit Rad, ca. 18 Km | Blau: historisch geführte Radtour, ca. 18 Km

Die Teilnahme ist kostenlos.
Es ist auch möglich, nur an einzelnen Abschnitten der Tour teilzunehmen.
Ein straßen-verkehrstaugliches Fahrrad muss mitgebracht werden.
Die Veranstaltung wird Tschechisch-Deutsch gedolmetscht.

Weitere Informationen und Anmeldung bis zum 5. Mai 2023 bei p.zahradnickova@hillerschevilla.de.


U příležitosti 78. výročí bezpodmínečné německé kapitulace vás zveme na komentovanou historickou cyklojízdu po Trojzemí. Na cestě za místy a vzpomínkami k tomuto období nás po obou stranách hranice doprovodí historici, kteří nám jednotlivá místa přiblíží.

Během cesty si uděláme přestávku přímo na Bodu Trojzemí, kde bychom si s Vámi rádi popovídali o tom, co pro nás datum 8.května 1945 z české a německé perspektivy znamená. Toto místo je též ideální pro společný picknick – nezapomeňte tedy na deku a něco k jídlu i k pití.

Program je rozdělen do několika etap (s různými místy srazu), kterých se můžete zúčastnit dle libosti:
1. Místo setkání:
8:30 – Náměstí, Žitava
: Společná cesta na kole do Chrastavy, cca 18km (neoficiální zahájení dne pro větší sportovce)

9:01 – Vlakové nádraží Žitava: Příjezd do Chrastavy vlakem (samostatně)

9:32 – Vlakové nádraží Liberec: Příjezd do Chrastavy vlakem (samostatně)

2. Místo setkání:
9:45 – Vlakové nádraží Chrastava
: Sraz všech zájemců o historickou komentovanou prohlídku s historikem Ivanem Rousem z Muzea v Liberci (cca 15km)

-> m.j. se zastávkami v: Chrastavě (koncentrační tábor), Bílý Kostel (fabrik), Hrádek nad Nisou (fabrika a pracovní tábory)

10:00 Uhr: Odjezd

3. Místo setkání:
13:00 – Bod Trojzemí
: Společný picknick a diskuze k tématu vnímání data 8. května v Čechách a Německu.

cca 14:30 Start historicky komentované cyklojízdy po Žitavě s historikem Felixem Pankoninem (cca 6 km)

→ m.j. se zastávkami: hospoda „Stadt Prag“, textilní fabrika EF-Bernhard nebo hasičská zbrojnice


16:00/16:30 – Náměstí Žitava: Zakončení akce

17:01, 17:18… – Možná vlaková spojení zpět do Liberce


Účast je zdarma.
Vzhledem k charakteru akce je nutné mít vlastní pojízdné kolo.
Akce bude tlumočena do češtiny a němčiny. Bližší informace a přihlášky do 5. května 2023 u Petry Zahradníčkové: p.zahradnickova@hillerschevilla.de.

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29. März 1933 in Görlitz

Einer der schönsten Plätze in der Stadt Görlitz ist der Postplatz.  Er ist einer dieser ganz besonderen Orte in Görlitz, an dem man auf einen Blick fünf verschiedene Epochen der Architektur sehen kann.  Erstaunlicherweise hat sich dieser Blick in den letzten 100 Jahren kaum verändert. In den letzten drei Jahren, in denen ich daran gearbeitet habe, die ehemaligen jüdischen Einwohner*innen von Görlitz und ihre Familien wieder mit der Stadt zu verbinden, habe ich erfahren, dass dieser Platz für einige auch besonders schwierige Erinnerungen bereithält. Diese Erinnerungen drehen sich größtenteils um das wunderschöne preußische Gerichtsgebäude aus rotem Backstein, das auf dem Platz steht. Heute vor genau 90 Jahren, an einem Mittwoch, geschah in Görlitz etwas einzigartiges und schreckliches.

Eine alte Postkarte aus dem Jahr 1910. Die Ansicht sieht erstaunlich gleich aus. Ich wohne in dem weißen Haus auf der linken Seite, und das Gerichtsgebäude ist das große rote Backsteingebäude auf der rechten Seite.

Beginnen wir mit den Hintergründen, die zu den Ereignissen dieses Tages führten. Bei der Wahl zum 8. Deutschen Reichstag am 5. März 1933 errangen die Nazis 43,9 % der Stimmen, eine Steigerung von fast 10 % gegenüber der Wahl im November. Trotz dieser Verbesserung verfügten die Nazis lediglich über eine einfache, aber immer noch nicht über eine absolute Mehrheit im Reichstag. Am 23. März 1933 brachte der Reichskanzler Adolf Hitler das Ermächtigungsgesetz in den Reichstag ein. Dieses neue Gesetz gab Hitler die Macht, per Dekret zu regieren, anstatt Gesetze durch den Reichstag und den Präsidenten zu verabschieden. Am 24. März 1933 wurde das Gesetz mit einer überwältigenden Mehrheit von 444 Ja- gegenüber 94 Nein-Stimmen verabschiedet. Damit war der Weg endgültig frei, für die nationalsozialistische Diktatur.

Was das in der Realität auch in kleinen Städten wie Görlitz bedeutete, sollte sich schon wenige Tage später deutlich zeigen. Am Mittwoch, dem 29. März 1933, belagerte ein großer Mob bewaffneter SA-Männer an einem frischen Frühlingstag (nicht unähnlich dem heutigen) das Görlitzer Gerichtsgebäude am Postplatz. Angeführt wurden sie von Rechtsanwalt Dr. Herbert Fritzsche.  Sie zogen rabiat durch alle Räume der Richterkanzlei, der Anwaltskanzlei und der Gerichtssäle und schrien dabei „Juden raus“, während sie Gummiknüppel schwangen. Der Mob verhaftete alle im Gebäude befindlichen Richter und Anwälte, die in ihren Augen „nicht-arisch“ waren. Weitere jüdische Anwälte wurden aus ihren Privatwohnungen und Büros geholt.

Moritz Sommer war zu dieser Zeit praktizierender Anwalt in Görlitz.  Er wohnte in der heutigen James-von-Moltkestraße mit seiner Frau Margrete und ihren drei Töchtern.  Moritz brach am 29. März 1933 zu einer Geschäftsreise nach Berlin auf.  Er schaffte es nur bis nach Weißwasser, wo er verhaftet und nach Görlitz zurückgeschickt wurde. Laut Moritz‘ Enkel Yoram wurde Moritz Sommer in Görlitz gezwungen, seine Schuhe auszuziehen und barfuß vom Görlitzer Bahnhof zum Gerichtsgebäude zu laufen.  Dann wurde er genötigt, ein Schild mit der Aufschrift zu tragen:  „Wir alle lesen die Volkszeitung“.  

Moritz Sommer

Die am häufigsten zitierte Stimme, die über diesen Tag spricht, ist die von Paul Mühsam, für den Görlitz viele Jahre lang ein Zuhause war.  Mühsam war verständlicherweise entsetzt über das, was in seiner Heimat geschah.  Er erinnerte sich später:

Nachdem sich alle formiert hatten, setzte sich der Zug im Gänsemarsch in Bewegung … Nachdem wir ausreichend durch die Stadt geführt worden waren, landete der Zug vor dem Rathaus. Dort hatte sich eine besonders große Anzahl von Nazis am Eingang versammelt, und bevor wir einmarschierten, gab jeder schnell seinen auswendig gelernten Spruch zum Besten. Das letzte, was ich hörte, nachdem ich das Gebäude betreten hatte, war: „Ab nach Palästina! Freikarte!““

Paul Mühsam, Ich bin ein Mensch gewesen, Bleicher Verlag, 1989.

Paul Mühsam war nicht allein.  Er wurde zusammen mit anderen Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde Görlitz verhaftet, darunter die Rechtsanwälte Dr. Hans Karger, Max Cronheim, Moritz Sommer, Andreas Meyer, Dr. Alfred Kunz, Dr. Benno Arnade, Heinrich Getzel, Ludwig Arndt, der Landgerichtsdirektor Dr. Eric Schwenk, der Zahnarzt Dr. Fritz Warschawski und der Karstadt-Kaufhausleiter Franz Schalscha. Diese und andere Männer wurden verhaftet und im Keller des Görlitzer Rathauses inhaftiert, allein wegen ihrer jüdischen Herkunft.

Dresdner Zeitung am 30. März 1933

Es gibt noch ein paar andere einzigartige Berichte über diesen Tag, die der Öffentlichkeit bisher unbekannt, d.h. von den Görlitzer Archivaren und Historikern nicht dokumentiert wurden. Einer dieser Berichte stammt aus dem Zeitzeugenvideo der Shoah Foundation mit Ernst Reich.  Ernst Karl Adolf Reich wurde am 30. Mai 1922 in Löbau geboren.  Er und seine Familie zogen Anfang der 1930er Jahre nach Görlitz, als Ernst noch ein Kind war, und sie wohnten in der Emmerichstraße 78 im ersten Stock.  Ernst besuchte zunächst die Reichenbacher Schule, eine Volksschule in Görlitz. Ernst sagte, dass diese ersten Jahre wunderbar waren, weil er sich gleichberechtigt empfand und niemand ihn beschimpft habe. Ernst erinnert sich, dass er das „Jüdischsein“ zum ersten Mal durch Verhalten seiner Nachbarn im Haus Emmerichstraße 78 bemerkte.  Diese hätten sich ihm und seinen Eltern gegenüber bereits furchtbar verhalten, noch bevor die Judenverfolgung 1933 von offizieller Seite begann. In der Silvesternacht 1932 stopfte eine Familie den Briefkasten der Reichs mit Gänsefedern voll und hängte ein großes Schild an ihre Tür, auf dem stand: „Guten Rutsch ins Konzentrationslager“.

Ernst sagt: „Sie schikanierten meine Eltern auf der Straße und warfen meinen Vater von der Straße in die Gosse. Er war schon 80 Jahre alt.  Und sie sagten: Juden haben auf dem Bürgersteig nichts zu suchen.  In Görlitz war das anders als in Löbau.“ 1933 wurde Ernst in die Oberschule an der Seydewitzstraße in Görlitz aufgenommen und dort begannen die Schikanen erst richtig.  Ernst erinnert sich, dass um die Zeit, als er in die Oberschule kam, alle Lehrer die Nazi-Armbinde trugen und immer mehr seiner Klassenkameraden in der Hitlerjugenduniform zur Schule kamen. Nun durfte Ernst auch nicht mehr am Religionsunterricht teilnehmen.  Er wurde gezwungen, vor dem Klassenzimmer zu warten, während die anderen Schüler ihren Unterricht erhielten.  Als Ernst am 29. März 1933 durch die Innenstadt ging, sah er etwas, das ihn für den Rest seines Lebens begleiten sollte. 

Kindheitsfoto von Ernst Reich (Junge in der Mitte)

„Sie zogen mit ihnen durch die ganze Stadt.  Ein großer Zug von Menschen: rechts und links SA und in der Mitte immer ein Jude.  Ich glaube, die Görlitzer Bürger hatten zuerst ein bisschen Angst. Aber die SA sorgte für das richtige Klima, und bald beschimpften unsere nichtjüdischen Nachbarn die Juden von allen Seiten.“

Ernst Reich

Der Historiker Roland Otto sagte, dass man den SA-Mob in einem einstudierten Chor schreien hören konnte:  „Der Jude wars, der böse Geist; Habgierig, schmierig, frech und dreist. Die Schlange, die wir groß gezogen und die uns dauernd hat betrogen.“

Aufnahme am Postplatz in Görlitz, 29.3.1933. Bestand Ratsarchiv Görlitz

Die Familie Reich konnte nicht glauben, was in ihrer Stadt geschah. Aber die zunehmende Ausbreitung des Hasses gegenüber jüdischen Bürger:innen Deutschlands war nicht nur in Görlitz zu beobachten. Am 9. März 1933 wurden in Chemnitz, am 11. März 1933 in Breslau, am 18. März 1933 in Oels, am 24. März 1933 in Gleiwitz, am 28. März in Frankfurt/Main, Duisburg, Dortmund und Hagen und am 29. März 1933 in Görlitz und Münster Gerichtsgebäude besetzt und jüdische Richter und Anwälte verhaftet.

Was mich jedoch an den Ereignissen in Görlitz am 29. März 1933 verblüfft hat, war die internationale Medienaufmerksamkeit, die sie erfuhren. In Zeitungsarchiven konnte ich in amerikanischen, britischen und australischen Zeitungen der damaligen Zeit Erwähnungen der Ereignisse in Görlitz finden, und das für die Geschehnisse in einer relativ kleinen deutschen Stadt.  Görlitz war nicht der erste Ort, an dem so etwas passiert ist, aber was hier geschah war offenkundig schrecklich genug, um in den internationalen Nachrichten erwähnt zu werden.

New York Times Artikel vom 30. März 1933

Die Ereignisse vom 29. März 1933 sollten sich als persönlicher Wendepunkt im Leben vieler jüdischer Bürger:innen von Görlitz erweisen.  Der Oberbürgermeister von Görlitz, Wilhelm Duhmer, der seit dem 9. Oktober 1931 im Amt war, war kein Freund der NSDAP. Als er am Abend des 30. März 1933 von einer Geschäftsreise zurückkehrte, entdeckte er die vielen jüdischen Bürger von Görlitz, die im Keller des Rathauses eingesperrt waren. Durch Telefonate mit der Landesregierung in Liegnitz (heute Legnica) und auch „auf eigene Faust“ gelang es ihm, die meisten der Verhafteten wieder freizubekommen.

Der Historiker Roland Otto sagte: „Man kann sich vorstellen, wie sehr die Nazis OB Duhmer dafür tadelten, dass er mutig zugunsten der disziplinierten jüdischen Bürgerinnen und Bürger intervenierte. Schließlich wurde er im Frühjahr 1934 beurlaubt und mit Wirkung vom 1. Juni 1934 zwangsweise in den Vorruhestand versetzt.“  Ein weiterer Görlitzer Bürger, der den jüdischen Anwälten und Bürgern von Görlitz in dieser Zeit half, war der Rechtsanwalt Dr. Walter Schade. Schade, selbst nicht jüdischer Herkunft, setzte sich für die Freilassung seiner verfolgten jüdischen Kollegen am 29. März 1933 ein.  Auch während der weiteren Zeit des Nationalsozialismus setzte er sich als Rechtsanwalt für die jüdischen Bürger von Görlitz ein, obwohl dies eigentlich illegal war. 

Dr. Walter Schade

Als sein jüdischer Kollege Heinrich Getzel und Heinrichs nicht-jüdische Frau Anna-Liesbeth 1944 aus ihrer Wohnung geworfen wurden, nahm er sie bei sich auf. Wir haben auch einen Brief von Dr. Benno Arnade, der die Hilfe und Unterstützung bezeugt, die Dr. Schade ihm und anderen zuteil werden ließ.  Es ist das erste Mal, dass ich bei meinen Nachforschungen über die jüdische Geschichte von Görlitz auf Dr. Walter Schade stoße, und ich bin sehr daran interessiert, mehr über diesen Mann zu erfahren, der die jüdischen Bürger von Görlitz in einer Zeit unterstützte, in der es sowohl gefährlich als auch unpopulär für ihn war, dies zu tun.

Eidesstattliche Erklärung von Dr. Benno Arnade

Viele jüdische Bürger von Görlitz flohen nach den schrecklichen Ereignissen vom 29. März 1933 aus Görlitz. Laut Shoshana Karger ging ihre Mutter Liese schnell zu einem Richter, der mit der Familie befreundet war, und flehte ihn an, sich für Hans Kargers Freilassung aus dem Gefängnis einzusetzen.  Shoshana sagte, dass sie und ihre Eltern eine Woche nach Hans Freilassung aus Görlitz in das britische Mandatsgebiet Palästina flohen. Paul Mühsam, Andreas Meyer und Dr. Fritz Warschawski flohen ebenfalls aus Görlitz ins britische Mandatsgebiet Palästina, bevor das Jahr 1933 zu Ende ging. Die Familie Cronheim verließ Görlitz, um sich in der Großstadt Berlin in Sicherheit zu bringen.  Franz Schalscha floh aus Görlitz nach Italien. Dr. Heinrich Getzel entging der Deportation, weil er eine nicht-jüdische Frau geheiratet hatte und somit in einer sogenannten „privilegierten Schutzehe“ lebte.  Er starb 1944 in der Nähe von Görlitz.  Auch Dr. Benno Arnade, der zwar jüdischer Herkunft, aber zum Christentum konvertiert war, überlebte den Holocaust und ist heute auf dem städtischen Friedhof begraben.

Shoshana Karger und Ralph Pietrkowski, 1933

Obwohl sich dieses Ereignis heute vor 90 Jahren ereignete, spüren die jüdischen Familien auf der ganzen Welt, die davon betroffen waren, immer noch die Nachwirkungen.  Dieser Tag hat mich als Einzelperson daran erinnert, wie zerbrechlich unsere Gesellschaften und Institutionen sind, die eigentlich die Sicherheit und die Rechte aller Menschen schützen sollen. Der 29. März 1933 zeigt, wie sich diese Institutionen gegen einen Teil der Gesellschaft wenden können, und unterstreicht die Notwendigkeit für alle, humanistische Werte zu stärken, die freie und gerechte Gesellschaft zu schützen und zu erhalten. Ich denke vor allem an den jungen Ernst Reich: wie er die Menge der Görlitzer beschreibt und wie ihre Reaktion von Entsetzen zu aktiver und eifriger Teilnahme wechselt. Wie sich die Erinnerungen an diesen Tag in sein Gedächtnis eingebrannt haben, sodass er sie selbst als 80-jähriger Mann noch klar vor Augen hat. Ich hoffe, dass wir alle in der Lage sind, so mutig zu sein wie das Beispiel von Dr. Walter Schade, wenn wir auf die Probe gestellt werden.  Hoffst du das nicht auch?

LL

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26. März 1933: Einrichtung des „Schutzhaftlagers“ Hainewalde im von Kyawschen Schloß

Die Zittauer Nachrichten und Anzeiger berichten: „Hainewalde. Das ehemals von Kyawsche Schloß wurde am Sonntagvormittag [26.3.] von einer Wache des Sturmbannes III/102 besetzt und wird als Lager für die in Schutzhaft genommenen politischen Gefangenen Verwendung finden. Auf dem Schloß wurde die Hakenkreuzfahne gehißt.“
Unmittelbar nach der Machtergreifung installierten die Nazis ihr verbrecherisches System und schalteten politische Gegner aus. In nahezu jeder Stadt und jeder größeren Gemeinde wurden sog. Schutzhaftlager eingerichtet, in denen Gegner der Nazis eingesperrt wurden. Da die Inhaftierung gleichsam über Nacht erfolgte, müssen im Vorfeld entsprechende Vorbereitungen getroffen worden sein, d.h., es existierten entsprechende Namenslisten der potentiellen politischen Gegner, die eingesperrt werden sollten. Hinzu kamen Denunziationen. Als Gefängnis dienten anfangs die örtlichen Gefängnisse, meist nicht mehr als ein bis zwei Arrestzellen in den Rathäusern, die eigenen Parteihäuser oder sonstige geeignete Objekte. Auch Hainewalde, das seit 1929 der Gemeinde Großschönau gehörte und leer stand, wurde zu einem sogenannten Schutzhaftlager.
Der Begriff leitet in die Irre, verdreht er doch den Sachverhalt ins Gegenteil. Nicht der Inhaftierte sollte geschützt werden, sondern inhaftiert wurden potentielle politische Gegner. So wurde unmittelbar nach der Machtergreifung ein „allgemeines SPD-Verbot“ erlassen und alle SPD-Mitglieder „vorsorglich“ in Schutzhaft genommen. Wurden anfangs die örtlichen Gefängniszellen in Rathäusern oder Gerichten genutzt, suchte man rasch nach geeigneteren Gebäuden. So geriet offensichtlich auch Schloss Hainewalde ins Visier. Hier wurde eines der ersten Schutzhaftlager eingerichtet, fünf Tage nach dem in Dachau.

Quelle: https://www.instagram.com/p/CqSt8G9sLtj/

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Verbrannte und verbotene Bücher: Zittaus öffentliche Bibliotheken im Nationalsozialismus

Vorgeschichte 30. Januar bis 5. März 1933

Die Herrschaft der Nationalsozialisten begann am 30. Januar 1933 mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler durch den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg. Nur zwei Tage später löste Hitler den Reichstag auf und ordnete Neuwahlen für den 5. März an. Dies erfolgte in Absprache mit dem Reichspräsidenten und den Mitgliedern der Regierung, um die Ernennung Hitlers und die Neubildung einer Regierung durch eine demokratische Wahl legitimieren zu lassen. Doch wurde der Wahlkampf durch die Reichsregierung zu ihren eigenen Gunsten massiv beeinträchtigt. Am 4. Februar hatte Hindenburg die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz des deutschen Volkes“ erlassen, mit der Einschränkungen der Presse- und Versammlungsfreiheit ermöglicht wurden. In Sachsen wurden zum Beispiel ab dem 21. Februar alle Demonstrationen der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) untersagt.

Titel der Ausgabe der Zittauer Nachrichten vom 28. Februar 1933.

Nachdem in der Nacht vom 27. zum 28. Februar das Reichstagsgebäude in Berlin durch einen Brand weitgehend zerstört wurde, erließ der Reichspräsident noch am selben Tag eine weitere Verordnung, die die Bürgerrechte der Weimarer Verfassung suspendierte. Auf dieser Grundlage nahm die „Sturmabteilung“ (SA) der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter Partei (NSDAP), die neben anderen NSDAP-nahen Organisationen tags zuvor als Hilfspolizei zugelassen worden war, in den ersten Stunden des 28. Februar mehrere tausend Menschen fest – vor allem Kommunisten, Sozialdemokraten und linke Intellektuelle. Unter dem Eindruck der Verfolgung politischer Gegner der NSDAP war die Wahl zum 8. Deutschen Reichstag am 5. März 1933 keine freie und demokratische Entscheidung mehr. Und trotzdem ist es wichtig zu betonen, dass eine Mehrheit der zur Wahl berechtigten Menschen im Reichsgebiet ihre Stimme der Partei Adolf Hitlers gab. In Zittau nahmen 88,6 Prozent der Wahlberechtigten teil. Von ihnen wählten 57,7 Prozent die NSDAP. Die Partei steigerte damit ihre Stimmenzahl seit der letzten Reichstagswahl im November 1932 von 7072 auf 11799.

Ergebnisse der Wahlen zum 8. Deutschen Reichstag in Zittau, veröffentlicht in Zittauer Nachrichten vom 6. März 1933.

8. März 1933 in Zittau

„Über bemerkenswerte Vorgänge“ wusste die Zittauer Morgenzeitung wenige Tage nach der Wahl, am 9. März 1933 zu berichten. Tags zuvor hatten „starke Polizeikräfte“ um 15:30 Uhr die „Volksbuchhandlung“ und „das Volkshaus“ besetzt. Beide Einrichtungen wurde nach Waffen und „Zersetzungsschriften“ durchsucht. Parteimitglieder der SPD oder KPD waren in keiner der beiden Einrichtungen angetroffen worden. Im Nachgang der polizeilichen Maßnahme stürmten Angehörige der SA beide Orte und besetzten diese ebenfalls. Sie entfernten u.a. „Fahnen, Bilder, Zeitungsbände, Bücher, Propagandamaterial“ und trugen diese in einem langen Zug „unter Vorantritt einer Spielabteilung“ zur oberen Neustadt. Hier bildeten sie zwischen Herkulesbrunnen und dem Marstallgebäude (heute besser bekannt als Salzhaus) „ein geschlossenes Karree, in dessen Mitte aus dem im Volkshaus und der Volksbuchhandlung gefundenen Material ein Scheiterhaufen errichtet wurde. SA-Leute brannten den Papierstoß an und warfen dann einzelne rote Fahnen, Flaggen, Flugblätter, Plakate, Ebert-Bilder, Volkszeitungsbände, eine Plakatsäule aus Pappmaschee und Zeitungsmakulatur in die Flammen.“ Die Dresdner Nachrichten berichteten ebenfalls am 9. März über diese Bücherverbrennung und gaben an, dass etwa 1000 Menschen der Aktion beigewohnt hätten.

Bericht über die Bücherverbrennung auf der Zittauer Neustadt am 8. März 1933 in der Zittauer Morgenzeitung vom 9. März 1933.

Diese Bücherverbrennung zählt zu den ersten, die in der Zeit des Nationalsozialismus auf dem Gebiet des Deutschen Reiches durchgeführt wurden. Zunächst gab es jene frühen und wilden Terrorakte, die vor allem der Einschüchterung des politischer Gegner*innen dienten. Diese erfolgten in der Regel im Anschluss an die Besetzung und Durchsuchung von Einrichtungen, die der SPD, der KPD, der Gewerkschaften und anderen politischen Gegnern der Nationalsozialisten angehörten oder nahestanden.

Heute sind vor allem die vielen Bücherverbrennungen um den 10. Mai 1933 bekannt. Damals hatte es reichsweit organisierte „Aktionen wider den undeutschen Geist“ gegeben, bei denen Studierende in vielen Universitätsstädten eine bestimmte Auswahl deutschsprachiger Literatur verbrannten. Im Rahmen dieser Aktionen kam es zu Störungen des Unterrichts, zu Belästigung und Nötigung von Lehr- und Universitätspersonal sowie anderer Studierender. Bücher wurden in großer Zahl aus den Universitäten geraubt und auf einem nahegelegenen prominenten Platz in aller Öffentlichkeit und im Beisein schaulustiger Massen verbrannt. Über diese politisch organisierten Formen hinaus fanden in der Zeit des Nationalsozialismus auch Verbrennungen von Literatur zu verschiedenen Anlässen statt, etwa bei Sonnenwendfeiern. In der Auswahl der Literatur orientierten sich diese Aktionen an jenem im Mai.

In Sachsen fanden vorrangig Verbrennungen des ersten, „wilden“ Typs statt, wobei die in Dresden, Freital, Zittau und Zwickau am 8. und in Leipzig am 9. März den Anfang machten.

Orte der Bücherverbrennung in Sachsen. Karte erstellt mit Open Street Maps.

Während bei den frühen Bücherverbrennungen Anfang März vor allem politische Schriften und Materialien verbrannt wurden, war die Auswahl der Literatur, die in der im Mai erfolgten „Aktion wider den undeutschen Geist“ vernichtet wurden, durch hierfür vorbereitete Listen beeinflusst. Vordenker war der nationalsozialistische Bibliothekar Wolfgang Hermann (1904-1945). 1933 leitete er die Zentralstelle für das deutsche Bibliothekswesen in Berlin. Bereits in den Jahren vor 1933 hatte Hermann Listen über jene Literatur zusammengestellt, die seiner Ansicht nach nicht mit dem nationalsozialistischen Gedankengut vereinbar waren. Die „Deutsche Studentenschaft“, eine gemeinsame Vertretung der Studierenden im Deutschen Reich, griff bei ihren Aktionen im Mai auf die von Wolfgang Hermann erstellte „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ zurück. Waren die Bücherverbrennungen 1933 eher von unten, durch die SA oder Student*innen organisiert worden, etablierte sich in der Zeit nach 1933 ein System zentraler Steuerung der Zensur und der Überwachung der öffentlich zugänglichen Literatur, das insbesondere die Bibliotheken betraf.

Geschichte der Zittauer Bibliotheken im Nationalsozialismus

1933 gab es in Zittau zwei Bibliotheken, die sich in Gemeindehand befanden: eine wissenschaftliche Zittauer Stadtbibliothek, die sich damals im Heffterbau in der Klosterstraße 3 befand, sowie die 1909 gegründete Volksbücherei im Dornspachhaus.

Sogenannte Volksbüchereien, die anders als wissenschaftliche oder amtliche Bibliotheken der breiten Öffentlichkeit zur Verfügung stehen sollten, sind auf dem Gebiet des heutigen Deutschland seit 1828 bekannt. Am 24. Oktober desselben Jahres hatte Karl-Benjamin Preusker (1786-1871) im sächsischen Großenhain die erste Einrichtung dieser Art gestiftet, um die Bildung der unteren Volksschichten zu fördern.

1931, als die Weltwirtschaftskrise das Deutsche Reich mit voller Wucht traf, wurden Nutzer*innen der meist kostenlosen Volksbüchereien in der Oberlausitz befragt, was ihnen diese Orte bedeuten. Im Folgenden eine Auswahl an Statements, die einem Bericht über die Nutzung[1] entnommen sind:

Im Lesen finde ich Bereicherung für mein Innenleben, aber auch Bereicherung für mein Wissen, welches bei mir noch sehr viele Lücken aufweist. Lesen brauche ich genauso für den Geist, wie Nahrung für den Körper, und das finde ich alles in der Volksbücherei. Wenn das nun auch noch aufhören sollte, das würde für mich [eine] Katastrophe bedeuten.

Kleinrentnerstochter (36 Jahre)

Selbst besitze ich keine Bücher.

Stellmacher (21 Jahre)

Ein Buch neueren Verlages würde ich wohl in einer Privat-Leihbücherei auch nicht erhalten.

Buchhalter (32 Jahre)

Gehen diese bildenden Werte verloren, so ist das gesamte Volk doppelt arm. Dass sich in der Bücherei alle Gesellschaftsklassen finden, die so oft gepriesene Volksgemeinschaft hier einmal zu finden ist, und Leitung und Personal der Bücherei dieser Gemeinschaft förderlich sind, das gefällt mir ganz besonders.

Schlossers (46 Jahre)

Die Volksbücherei bedeutet für mich keine Unterhaltung, damit einem die Zeit vergeht, sondern bei Ausnutzung derselben Aufklärung auf allen Gebieten der Wissenschaft. Wünschte nur, dass sich das ganze Volk diesem Sinne beteiligen würde.

Litograph (56 Jahre)

2,45 Prozent der rund 40.000 Bewohner*innen der Stadt Zittau nutzten in der Zeit zwischen April 1931 und März 1932 das Angebot der Volksbücherei. Das heißt, 980 Leser*innen liehen jeweils mindestens ein Buch aus: unter ihnen 58 Kinder bis 14 Jahre sowie 150 Jugendliche bis 18 Jahre. Insgesamt führte die Städtische Volksbücherei in Zittau zu diesem Zeitpunkt über 12000 Bände.

Die Nationalsozialisten erkannten die Bedeutung dieser Einrichtungen für die Volksbildung, doch verfolgten sie damit eigene ideologische Ziele. In diesem Sinne förderten sie den Ausbau bestehender und den Neubau weiterer Volksbüchereien. Ihren eigenen Erhebungen zufolge gab es 1935 in über 15.000 Orten im Deutschen Reich derartige Einrichtungen. Zählt man die Bevölkerung dieser Orte zusammen, standen die Angebote der Volksbüchereien 45,6 Millionen Reichsbürger*innen zur Verfügung, das entsprach ca. 70 Prozent der damaligen Gesamtbevölkerung. Ab 1934 unterstanden diese in der Gestaltung ihres Angebots den Anweisungen des Reichs- und Preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung.

Erste Säuberungen

Am 14. März 1933 teilte der damalige Oberbürgermeister von Zittau, Walter Zwingenberger (1880-1963) dem Leiter von Museum und Bibliothek mit, dass der NSDAP-Stadtrat Dr. Wilhelm Rehbach von ihm bevollmächtigt worden sei, „die Stadtbibliothek, die Volksbücherei und Lesehalle auf das Vorhandensein antinationaler Bücher und Zeitschriften nachzuprüfen.“[2] Während aus der öffentlichen Volksbücherei und der Lesehalle alles „unerwünschte“ Schriftgut entfernt wurde, galten für die Stadtbibliothek andere Regeln. Zu Studienzwecken und unter besonderer Aufsicht waren hier „jüdische und marxistische“ Literatur weiterhin vorzuhalten.[3]

Bis Anfang 1934 etablierten sich im Deutschen Reich Stellen, die für die Lenkung des Büchereiwesens die Hoheit an sich zogen. Bereits seit Ende März 1933 waren im Rahmen der sogenannten Gleichschaltung durch verschiedene Gesetze staatliche Aufgaben der Länder auf politische Strukturen des Reiches übertragen worden. Entsprechende Stellen auf Länder- und Kreis- sowie kommunaler Ebene waren den übergeordneten Stellen jeweils verantwortlich. Somit galten Entscheidungen der Reichsministerien ab Anfang 1934 auch für die einzelnen Kommunen.

Im Januar 1934 stellten das Ministerium des Inneren und das Ministerium für Volksbildung die Volksbüchereien unter ihre staatliche Aufsicht.[4] Diesen Einrichtungen fiel in ihren Augen nämlich „eine wichtige Aufgabe in der Erziehung des deutschen Menschen zu geistiger und seelischer Erneuerung im nationalsozialistischen Geiste zu.“ Für die Bibliotheken der Stadt Zittau wurde die Staatliche Kreisberatungsstelle für Volksbüchereiwesen in Bautzen zuständig, die wiederum der Sächsischen Landesfachstelle unterstellt war. Diese Kreisfachstelle konnte nun die Bestände der Büchereien jederzeit einer Prüfung unterziehen und war bei der Beschaffung neuer Literatur zwingend zu konsultieren. Auch wenn es bereits Prüfungen der Bestände gegeben hatte, betonten die Ministerien, dass es immer wieder solcher Prüfungen bedürfe. Ziel war es

alles artfremde und volkszerstörende Schrifttum, insbesondere die marxistische, pazifistische, liberalistisch-demokratische Literatur, aber auch die durch die Entwicklung überholten Werke zur Staatsbürgerlichen Erziehung und ähnliches […] zu entfernen.

Bekanntmachung des Ministeriums d. Inneren und des Ministeriums f. Volksbildung, vom 25. Januar 1934

Im April 1934, ein gutes Jahr nach dem Beginn der Herrschaft der Nationalsozialisten, gab die Bibliotheksleitung an, dass sich nur noch 7535 Bücher im Bestand der Volksbücherei befinden. Ohne Kenntnis über die Zahl der Neuanschaffungen in der Zeit, zu denen keine Zahlen vorliegen, bedeutet das, dass fast 40 Prozent des Bestandes von Anfang 1933 durch „Säuberungen“ ausgesondert worden sind.

Fall des Direktors Dr. Reinhard Müller

1933 wurde die Bibliothek in Personalunion vom Museumsleiter Dr. Reinhard Müller geleitet. In der oben zitierten Bekanntmachung hatten die beiden Reichsministerien die Kommunen auch aufgefordert, bei der Besetzung der Stellen der Bibliotheksleitung besonderes Augenmerk auf die „politische Zuverlässigkeit“ der Mitarbeiter*innen zu legen.

Unter diesen Umständen wurde Müller ein an sich gewöhnlicher Verkauf von Dubletten aus dem Bestand der Stadtbibliothek zum Verhängnis. Im November 1933 hatte sich Erich Carlsohn, der Inhaber der gleichnamigen Buchhandlung mit angehörigem Antiquariat in Leipzig an die Stadtbibliothek Zittau gewandt, um von ihr angebotene Dubletten zu erwerben.[5] Der Verkauf war durchaus im Sinne der Bibliothek, da erheblicher Platzmangel herrschte und für einen notwendigen Ausbau oder auch die Anschaffung neuer Bücher immer weniger Mittel zur Verfügung standen. Es wurde vereinbart, dass die Firma Carlsohn alle Dubletten der Bibliothek für eine Zahlung von 200 RM und eine Gutschrift über 150 RM für Bestellungen aus dem eigenen Bestand übernehmen würde.

Ende Februar 1934 schaltete sich Stadtrat Kurt Günzel ein, der seit Dezember 1933 durch OB Zwingenberger angestellt worden war. Günzel monierte, dass der Verkauf der Bücher viel zu günstig erfolgt und nicht durch die Stadt genehmigt worden sei. In seiner Sitzung am 27. Februar 1934 nahm der Stadtrat zu Zittau den Vorgang zur Kenntnis und forderte Müller zur Stellungnahme auf. Müller legte ausführlich dar, dass ein Verkauf der Dubletten bereits vor seiner Zeit vorbereitet und auch von ihm mit den zuständigen Dezernenten der Stadt im Laufe des Jahres 1933 abgestimmt worden sei.

Nun nimmt die Geschichte eine für die Zeit eigentümliche Wende: Der aktuelle Dezernent, Stadtrat Kretschmar gab darauf hin zur Kenntnis, dass ihm der Verkauf nicht bekannt gewesen sei. Kretschmar wies außerdem darauf hin, dass ihn „schon der Name Carlsohn […] stutzig gemacht“ haben würde.[6] Für den Bibliotheksleiter Müller war die Angelegenheit damit keine Frage der Wirtschaftlichkeit mehr, sondern eine der „politischen Zuverlässigkeit“. Sie gewann dadurch eine besondere Dringlichkeit. Das Schreiben Kretzschmars ist auf den 7. März datiert. Bereits am 9. März lag einem Brief des Leipziger Buchhändlers Carlsohn eine kleine bedruckte Karte bei, die ausführte, dass er „rein arischer Abstammung“ sei. (Hervorhebung im Original) Die Familie sei vor 150 Jahren aus Schweden eingewandert und seitdem eine Dynastie von sächsischen Lehrern und Beamten.[7]

Am 14. März 1934 beriet der Stadtrat erneut über den Fall und dabei wurde auch auf die angebliche jüdische Herkunft des Käufers aus Leipzig hingewiesen. Der Rat diskutierte daraufhin, ob er den Verkauf rückgängig machen und die bereits versandten Bücher zurückfordern solle. Doch die Rechtslage wurde als ungünstig eingeschätzt und der Vorgang deshalb zu den Akten gelegt.[8] Im Ausschuss für die Stadtbücherei und das Stadtmuseum wurde der Fall am 19. März 1934 noch einmal beraten. In der Sitzung wurde ausführlich dargelegt, in welch schlechtem Zustand die Bücher gewesen seien, die folglich zu einem guten Preis nach Leipzig verkauft worden wären. Wiederum wurde als Gegenargument die angebliche jüdische Herkunft Erich Carlsohns angeführt.[9]

Für den Leiter von Museum und Bibliothek Dr. Reinhard Müller hatte der Vorfall eine gravierende Konsequenz. Er wurde noch im selben Monat wegen „persönlicher Verfehlung“ seines Amtes enthoben. Dagegen legte er kurz darauf Beschwerde ein, die er mit einem Zitat Adolf Hitlers schloss.[10]

Kreisfachstelle für Volksbüchereiwesen und ihr Leiter Kurt Marx

Vor Ort war nun die Bibliothekarin Fr. Posern mit der Interimsleitung der Bibliothek betraut, die von einem Berater, dem Studienrat Gottlebe unterstützt wurde. In ihrer Arbeit wurden solche ehren- und hauptamtlichen Mitarbeiter*innen der Bibliotheken durch regelmäßig erscheinende „Fachzeitschriften“ beraten. Darunter etwa Der Vorposten, das amtliche Mitteilungsblatt der staatlichen Landesfachstelle für Volksbüchereiwesen Sachsen. Diese erschien monatlich, musste von allen Büchereien bezogen werden und widmete sich der weltanschaulichen Schulung. Daneben gab es Die Bücherei und die Schulungsbriefe, die nationalsozialistisches Gedankengut für die Bibliotheksmitarbeiter*innen aufbereiteten, sowie die Bücherkunde, die Neuerscheinungen zu den entsprechenden Themen besprach.

Bei politischen Fragen war außerdem die Staatliche Kreisfachstelle für Volksbüchereiwesen in Bautzen, in persona ihr Leiter Kurt Marx einzubeziehen. Dieser wies die Mitarbeiter*innen der Bibliotheken, die in seinem Zuständigkeitsbereich lagen, in einem Rundschreiben im August 1935 an, die „Säuberung“ der Bibliotheken kontinuierlich fortzusetzen.[11] Marx schrieb:

„In einer Zeit so tiefgreifender innerer Umstellung müssen wir immer wieder an jedes einzelne Buch die Frage stellen, ob es seinem ganzen Geiste nach noch für die heutige Büchereiarbeit, die einen neuen deutschen Menschen formen helfen will, geeignet ist.“

Am laufenden Band schickte Marx Listen „verbotener und unerwünschter Literatur“, die von den Bibliotheken auszusortieren waren.

Hin und wieder fand sich am Ende einer solchen Liste der Hinweis, dass ein Verbot einer Schrift wieder aufgehoben wurde und diese wieder aufzunehmen sei. Von Anfang an waren die Bibliotheken angehalten, die Schriften nicht direkt zu vernichten, sondern für einen noch zu bestimmenden Gebrauch unter Verschluss aufzubewahren.

Bei Neuanschaffungen musste die Stadt Zittau bei der staatlichen Kreisfachstelle in Bautzen um Genehmigung bitten. Marx gab dann entsprechende Rückmeldung, welche Titel bestellt werden durften, welche nicht. Beispielsweise erhielt die Stadt im November 1935 auf ihre zuvor eingereichte Liste hin die Antwort, dass einige Titel nicht genehmigt werden könnten. Dies erfolgte für gewöhnlich ohne Begründung, bzw. wurde vorausgesetzt, dass allen klar sein müsse, warum diese Titel nicht zugelassen sein würden. Nicht immer jedoch waren die Entscheidungen für alle Beteiligten nachvollziehbar. So fand sich im November 1935 unter den abgelehnten Titel auch ein Buch, das im Kern nationalsozialistische Propaganda für die Teilnahme an nationalsozialistischen Jugendorganisationen enthielt. Auf erneute Rückfrage der Stadt hin, führte Marx dann in seiner Antwort für jeden einzelnen Fall die Grundlage seiner Entscheidung aus. Bei der Propagandaschrift wies er darauf hin, dass diese „in den maßgebenden nationalsozialistischen Zeitschriften so vernichtend besprochen worden“ sei, dass er keiner Bibliothek erlauben werde, „ein solches Konjunkturerzeugnis anzuschaffen“.

Für Stadtrat Günzel ein eher unglücklicher Fall, da er unter Umständen Zweifel an seiner politischen Eignung zu wecken vermochte. In seinem Schreiben hatte deshalb vorsorglich darauf hingewiesen, dass die Literatur auf Empfehlung des Zentralverlages der NSDAP hin ausgewählt worden war. Marx wies nun seinerseits Anfang Januar 1936 alle Büchereien an, die Auswahl der Bücher zur Anschaffung nur noch mit Listen zu treffen, die durch seine Stelle zur Verfügung gestellt worden waren. Im Anschluss folgten in regelmäßigen Abständen Listen, die Anschaffungen zu verschiedenen Themenschwerpunkten nahelegten: „Bücher für die Hitler-Jugend“, Bücher für die deutsche Frau“ usw. usf.

Inzwischen war der Bestand der Volksbücherei wieder auf 9500 Bände gewachsen. Allerdings gingen die Zahlen der Leser*innen drastisch runter. Zwischen März 1934 und April 1935 hatten lediglich 280 Einwohner*innen ein Buch ausgeliehen. Da die Zahlen auch danach deutlich „unter dem Reichsdurchschnitt“ blieben, sah sich die Stadt Zittau Mitte des Jahres 1936 gezwungen, etwas zu unternehmen. Der Oberbürgermeister Walter Zwingenberger bat deshalb den Leiter der Kreisfachstelle für Volksbüchereiwesen Marx um Hilfe.[12] Dieser strebte eine Neuausrichtung der Zittauer Bibliothek an.

Grenzlandbibliothek

Der 1888 in Roßwein geborene Kurt Marx, hatte neuere Sprachen, Germanistik, Geschichte, Pädagogik studiert und 1920 das Staatsexamen für den höheren Schuldienst abgelegt. Das Amt des Leiters der Sächsischen Kreisberatungsstelle für das volkstümliche Büchereiwesen wurde 1928 in Bautzen geschaffen und ihm übertragen. Marx hatte sich bereits als Leiter der Bautzener Stadtbücherei einen Namen damit gemacht, dass er die Volksbibliothek zu neuem Glanz führen wollte.

In Orientierung am amerikanischen Büchereiwesen, das durch besonders hohe Nutzungszahlen für sich spreche, wollte er die hiesigen Bibliotheken in den Dienst der Leserpersönlichkeit stellen. Dabei hatte er Mitte der 1920er Jahre schon daran gedacht, dass die Volksbüchereien zum „Aufbau des deutschen Volkstums, der deutschen Volksgemeinschaft“ beitragen solle.[13] Damit richtete er sich dezidiert gegen einen von ihm wahrgenommenen „kulturellen Niedergang […], der sich zum einen in Kunst und Architektur bemerkbar mache und zum anderen zu einer wissenschaftlichen Spezialisierung führe, bei der gegenseitiges Verstehen nicht mehr möglich“ sei. Auch Marx arbeitete wie der Berliner Bibliothekar Wolfgang Hermann bereits vor 1933 mit Listen über nationalsozialistische Literatur, die er zur Verfügung zu stellen anstrebte.[14]

Kurt Marx sah die Volksbüchereien in der sächsischen Oberlausitz in der Rolle von sogenannten Grenzlandbibliotheken. Er war überzeugt, dass diese Einrichtungen ihre Aufgabe in der Ausbildung der Bevölkerung zum Kampf an der äußeren Grenze zur Tschechoslowakei sowie bei der innere Abgrenzung von der wendischen/sorbischen Kultur und deren Vertreter hatten. Dabei hatte er sehr klare Vorstellungen wie dieser Aufgabe nachzugehen sei. Im Oktober 1936 veröffentlichte er seine kulturpolitischen Ansichten anlässlich der „Woche des deutschen Buches“ in einem Artikel über „Grenzlandarbeit in den Oberlausitzer Büchereien“, der in den Zittauer Nachrichten, die „NS-Tageszeitung für die Oberlausitz“ erschien.[15] Darin führte er unter anderem aus:

Der Bestand der Grenzbücherei soll die Haltung pflegen, ohne die nun einmal ein Volkstumskampf nicht durchgefochten werden kann, nämlich Stolz auf das eigene Volkstum, Wehrhaftigkeit, Willensstärke, Heimattreue, Heimatkenntnis, Volksverbundenheit, Treue zum Führer, Gottesglaube, Opferbereitschaft[…].

Marx empfiehlt dabei insbesondere die schöne Literatur, den Roman und die Dichtung, denn

sie durchdringen den Menschen am sichersten mit Hilfe des Erlebnisses. Dieses aber lößt allein der Roman, die Dichtung, die Erzählung aus. […] So pflegt die Bücherei des Grenzlandes den Weltkriegsroman, den Bauern- und Heimatroman, die Romane der Bewegung und ihrer Toten, der SA, HJ usf., den Roman des Grenz- und Auslandsdeutschentums, überhaupt, die Dichtung völkischen Gehalts.

Marx, Grenzlandarbeit in den Oberlausitzer Büchereien

Und wie er sich bereits Mitte der 20er Jahre gegen Sachliteratur ausgesprochen hatte, so hieß es auch in diesem Beitrag:

Soweit belehrende Bücher (d.h. solche, die sich hauptsächlich an den Verstand wenden) eingesetzt werden, sollen Sie […] leicht verständlich sein.

In diesem Sinne gestaltete er als Leiter der Staatlichen Kreisfachstelle für Volksbüchereien in der Oberlausitz die Bibliotheken der Region und auch jene Volksbücherei in Zittau. Sein Amt hatte er bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges inne. Kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee Anfang Mai 1945 floh er in die Hansestadt Hamburg, wo er wiederum eine Anstellung in der Bibliothek erhielt. Die hierfür benötigte Bescheinigung, dass er politisch unbelastet sei, konnte er beschaffen. Seiner Personalakte ist zu entnehmen, dass er zu keiner Zeit Mitglied einer politischen Partei war.

Fazit: Die Bibliothek in der totalitären Diktatur

Im November 1936 bat die Bibliothek in einem Schreiben an Stadtrat Günzel, um die Bereitstellung größtmöglicher Summen für die Beschaffung neuer Literatur. Im Rahmen einer erneuten „Säuberung“ durch die Staatliche Kreisfachstelle waren wiederum „weit über 1000 Bücher“ entfernt worden. Der Restbestand, so hieß es in dem Schreiben, mache „einen nicht gerade überzeugenden Eindruck“.[16]

So geht es auch in den Folgejahren weiter. Die Bedeutung, die den Volksbüchereien von politischer Seite zugedacht wird, macht ihre dauerhafte Umgestaltung notwendig, da sie sich jeweils an den aktuellen Entwicklungen auszurichten hatte. Nach dem Münchner Abkommen im September 1938, in dem Großbritannien, Frankreich und Italien dem Deutschen Reich die Annexion eines Teils der Tschechoslowakei zugestanden, besetzte die Wehrmacht ab dem 1. Oktober dieses Territorium. Die Zittauer Bibliothek lag damit und vor allem nach dem am 1. September 1939 erfolgten Einmarsch in Polen nicht mehr im Grenzland. Ab 1939/40 wurde sie deshalb auf den vom Deutschen Reich begonnenen Weltkrieg wiederum grundlegend neu ausgerichtet. Dann sollte sie Widerstandskraft und Kampfgeist der Bevölkerung stärken.

Nachdem die Alliierten 1945 das Deutsche Reich niedergerungen und besetzt hatten, begannen auch in den Bibliotheken, sofern sie noch bestanden, die Aufräumarbeiten. Die auf die Verbreitung des nationalsozialistischen Gedankenguts ausgerichteten Büchereien mussten nun wiederum davon „gesäubert“ werden. Dies erfolgte in Zittau im Januar und Februar 1946 durch einen Ausschuss aus je einem Vertreter des antifaschistischen Aktionsausschusses, der KPD, der SPD, des Schulamtes und des Kulturamtes. Nachdem das Ergebnis durch einen Offizier der sowjetischen Besatzungskommandantur überprüft worden war, durften die beiden städtischen Bibliotheken Im februar 1946 wieder für die Leser*innen öffnen.

1951 wurden die beiden städtischen Bibliotheken zusammengeführt und in der Bahnhofsstraße 10/12 untergebracht. Seit 1954 trägt diese Bücherei den Namen Christian-Weise-Bibliothek Zittau. 2002 zog sie an ihren heutigen Standort im Salzhaus an der Neustadt um.


[1] Stadtarchiv Zittau, IIa-VI-b5-Nr.1-Bd.3-F.546, S. 9-9e.
[2] Ebd., IIa-VI-b3-Nr.2-Bd.10-F.542, S. 22.
[3] Ebd., S. 25.
[4] Ebd., IIa-VI-b5-Nr.1-Bd.1-F.546, S. 13.
[5] Ebd., IIa-VI-b3-Nr.2-Bd.8-F.542, S. 5.
[6] Ebd., S. 18.
[7] Ebd., S. 19.
[8] Ebd., S. 20.
[9] Ebd., S. 21.
[10] Ebd., IIe-II-Nr.650.
[11] Ebd., IIa-VI-b5-Nr.1-Bd.3-F.546, S. 56.
[12] Ebd., IIa-VI-b3-Nr.2-Bd.10-F.542, S. 57-58.
[13] Kurt Marx, Volksbücherei und Stadtbücherei. Von Stadtbibliothekar Kurt Marx“, in: Bautzner Nachrichten, vom 9. Mai 1925.
[14] Ronny Langer, Der Nationalsozialismus und das Potenzial der Volksbücherei. Das Beispiel der Staatlichen Kreisfachstelle für Büchereiwesen Bautzen, in: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie, 4 (2016), S. 213-223, hier S.216. <online>
[15] Kurt Marx, Grenzlandarbeit in den Oberlausitzer Büchereien, in: Zittauer Nachrichten. Die NS-Tageszeitung für die Oberlausitz, vom 28. Oktober 1936, S. 4, der Artikel findet sich im Original als press cut im Stadtarchiv Zittau, IIa-VI-b5-Nr.5-Bd.1-F.144, o.S..
[16] Stadtarchiv Zittau, IIa-VI-b5-Nr.2-Bd.2-F.546, S. 78.

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UNSICHTBARE SYNAGOGEN

Fotografien von Štěpán Bartoš

Am Donnerstag, den 26. Januar, fand in der Kulturkneipe Jolesch in Zittau die Vernissage der Fotografien „Unsichtbare Synagoge“ statt. Die Ausstellung präsentiert fast 20 originale, mechanisch bearbeitete Fotografien des ostböhmischen Fotografen Štěpán Bartos, der Orte in der Tschechischen Republik vorstellt, an denen früher jüdische Synagogen standen.

An der Eröffnung nahm nicht nur der Künstler selbst teil, er wurde auch durch einen thematischen Vortrag über die jüdischen Gemeinden und die Synagogen im ehemaligen Sudetenland bereichert. Gehalten hat diesen Dr. Markéta Lhotová von der Abteilung für Geschichte der Technischen Universität Liberec. Zur musikalischen Rahmung haben Schülerinnen der Kreismusikschule Dreiländereck in Zittau drei Stücke gespielt.

An der Vernissage nahmen mehr als 60 Besucher:innen teil. Das gesamte Programm in tschechischer und deutscher Sprache wurde simultan gedolmetscht.

Die Ausstellung ist noch bis zum 31.3.2022 in der Kulturkneipe Jolesch (Klienerbergerplatz 1, Zittau) zu sehen, auf Anfrage bei netzwerkstatt@hillerschevilla.de auch außerhalb der Öffnungszeiten. Weitere Informationen zum Projekt „Unsichtbare Synagogen“ finden Sie hier.

Radiobeitrag von Radio Prag zur Ausstellung und Vernissage der Ausstellung „Unsichtbare Synagogen“. Genauere Informationen erhalten sie hier.

Verschwinden der Synagogen in Tschechien

Die ausgestellten Fotos führen uns zu den Orten in der Tschechischen Republik, an denen früher jüdische Synagogen standen. Sie wurden nicht spontan und zu ganz unterschiedlichen Zeiten zerstört. Viele Faktoren haben nach und nach eine Rolle gespielt – von den zunehmend nicht mehr so aktiven jüdischen Gemeinden und dem Wiederaufbau der Städte zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis hin zu zwei Regimen mit verheerenden Folgen auf allen Ebenen – dem Nazismus und dem Kommunismus.

Seit dem Mittelalter stehen Synagogen im Mittelpunkt des religiösen, erzieherischen und sozialen Lebens der jüdischen Gemeinden. Vor allem das 19. Jahrhundert brachte eine bedeutende Emanzipation mit sich, die sich in bemerkenswerten architektonischen Leistungen äußerte, die oft von den verschiedenen Baustilen der Vergangenheit inspiriert waren. So wurde die Synagoge zu einem sichtbaren Bestandteil des Bildes vieler tschechischer Städte und Dörfer. Im urbanen Raum als repräsentativer Bau an einer renommierten Adresse. Abseits der Städte häufiger als bescheidenes Gebäude im jüdischen Viertel.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lösten sich einige jüdische Gemeinden auf, das religiöse Leben konzentrierte sich auf größere Gemeinden und einige kleinere Synagogen dienten nicht mehr religiösen Zwecken oder wurden nur noch sporadisch genutzt.

Die in Teschechien heute noch geläufig als „Kristallnacht“ benannten Novemberpogrome von 1938 waren ein entscheidender Wendepunkt. In den Tagen um den 9. November 1938 kam es unter der Führung von SS-Truppen auf dem Gebiet des „Sudetenlandes“, das zu diesem Zeitpunkt bereits vom Deutschen Reich annektiert worden war, zu einem groß angelegten Angriff auf die jüdischen Gemeinden. Sowohl durch die Ermordung von Menschen als auch durch die Zerstörung von jüdischem Eigentum, wurde jüdisches Leben in Tschechien massiv beeinträchtigt. In kürzester Zeit entstanden irreparable Schäden an Gebäuden und insbesondere an der Inneneinrichtung, die entweiht und irreparabel beschädigt wurde.

Der Begriff „Kristallnacht“ ist ein propagandistischer Begriff der Nationalsozialisten, der dem eliminatorischen Pogrom einen glanzvollen Namen verlieh. Heute spricht man dagegen von „Reichspogromnacht“ oder besser den Novemerpogromen, denn die Zerstörung beschränkte sich bei weitem nicht auf diese eine Nacht. In Tschechien aber auch anderen Ländern wie z.Bsp. den USA wird der Begriff „Kristallnacht“ bis heute verwendet, wobei er klar an ein negatives Ereignis erinnert.

Die nächste Welle der Zerstörung von Synagogen und der Liquidierung (nicht nur) der jüdischen Gemeinde fand nach der Besetzung der Tschechoslowakei und der Ausrufung des Protektorats Böhmen und Mähren am 15. März 1939 statt. Während der nationalsozialistischen Besatzung wurden Tausende von Menschen im Land hingerichtet, 70.000 tschechische Juden starben in Konzentrations- und Vernichtungslagern, und Tausende weitere wurden zur Arbeit in Deutschland gezwungen.

Die jüdischen Gemeinden waren damit fast vollständig zerstört und die Pflege der mit ihr verbundenen Gebäude und Gegenstände verwaiste fast völlig. Während des Krieges und auch nach Kriegsende wurden Synagogen noch Opfer von Bombenangriffen.

In der anschließenden lange Periode des kommunistischen Totalitarismus bis 1989 schritt der Verfall der Gebäude weiter fort. Ohne ihre meist ermordeten oder vertriebenen Nutzer:innen verfielen die Synagogen, oder wurden umgenutzt und entwertet. Das kommunistische Regime pflegte eine selektive Geschichtspolitik, negierte den spezifischen Status jüdischer Opfer, nahm keine Rücksicht auf deren Geschichte, hatte keinen Sinn für die Schönheit der jüdischen Sakralbauten und sanierte stattdessen ganze Stadtteile pragmatisch für den Bau von Wohnsiedlungen oder errichtete eigene kommunistischen Tempel.

Die ausgestellten Fotos zeigen die Orte, an denen früher die Synagogen standen. Manchmal ist es offensichtlich, dass etwas auf dem Bild „fehlt“ – nur die Synagoge ist verschwunden und andere Gebäude im ähnlichen Stil sind geblieben (z. B. Foto 1 – Františkovy Lázně). Dies gilt insbesondere für die Folgen der Novemberpogrome im Sudetenland. Häufig ist es jedoch schwierig, sich die ursprüngliche städtebauliche Situation eines Ortes vorzustellen, der durch den sogenannten Aufbau des Sozialismus (z. B. Foto 2 – Svitavy) und den auf die Samtene Revolution 1989/90 folgenden Neubau (z. B. Foto 3 – Ústí nad Labem) überrollt wurde.

Foto 1 – Františkovy Lázně
Foto 2 – Svitavy
Foto 3 – Ústí nad Labem

Einige der Gebäude, die heute an den Standorten der ursprünglichen Synagogen stehen, verweisen noch auf deren Geschichte. Ein Beispiel dafür ist die Bibliothek in Liberec, ein modernes Gebäude aus dem Jahr 2000, das auch eine Synagoge umfasst. (s. Foto 4.)

Lassen wir uns von diesem Ansatz dazu inspirieren, das Gewicht der Geschichte anzunehmen. Erinnerung ist der einzige Weg, sich die Vergangenheit gegenwärtig zu machen, um ihre Wiederkehr in der Zukunft zu verhindert …

Foto 4 – Liberec

PZ und Štěpán Bartoš

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UNSTERBLICHKEIT DER STERNE

Verb(r)annte Bücher, „verfemte“ Komponisten, unsterbliche Biografien.

Ein literarisch-musikalischer Abend im Gedenken an die Opfer der deutschlandweiten Bücherverbrennung 1933. Gegen das Vergessen!

Die Bücherverbrennung im Frühjahr 1933, die Zerstörung des literarischen und aufklärerischen Geistes, die Vernichtung des modernen geistigen Europas und der Aufbau diffiziler Feindbilder war der lodernde Auftakt der folgenden Barbarei. Der Aufklärung verpflichtete Literatur wurde tonnenweise ins Feuer geworfen und somit der „flackernde Niedergang“ eines besonderen kulturellen Bewusstseins eingeleitet. Mord und Selbstmord zugleich?

Die Veranstaltung erinnert an die Bücherverbrennung in Zittau am 8. März 1933 und all die vielen „verschwundenen“ Bücher in der Zeit des Nationalsozialismus: Sie erinnert daran, wie eine damalige wissenschaftliche Elite den deutschen Geist zu verbrennen versuchte und die Sterne unsterblich blieben.

Musik | Rezitation
Julia Boegershausen, Björn Bewerich

Politik, Gesellschaft, Historie
Felix Pankonin

8. März 2023 | 19:30 Uhr | Christian-Weise-Bibliothek
Der Eintritt ist frei.

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28.3. – „Nieder mit Hitler“ – eine Live-Comic-Lesung

Wir laden recht herzlich zu einer ganz besonderen Veranstaltung ins Kronenkino Zittau ein.

Dienstag, 28. März um 19.30Uhr (Eintritt kostenfrei).

Zum Inhalt:

Plötzlich fällt Karl alles wieder ein. Der Sommer 1943. Der Frust über die deutsche Niederlage bei
Stalingrad. Und die todesmutige Idee, Hitler zu stürzen. Karl und seine Schulfreunde verteilen
Flugblätter gegen die Nazis, werden von der Gestapo verhaftet und eingesperrt. Mit Glück
entgehen sie der Todesstrafe.
Das alles ist fast 20 Jahre her. Aus dem Teenager Karl ist ein erwachsener Mann geworden. Als
Pfarrer kümmert er sich um eine kleine Gemeinde in der DDR. An damals denkt er kaum noch. Bis zu
dem Tag, an dem er nach Berlin fährt und Bekanntschaft mit einem Stasi-Mitarbeiter macht. Dieser
stellt ihn vor eine schwere Entscheidung…
Die Graphic Novel „Nieder mit Hitler!“ erzählt nun erstmals Karl Geschichte. – Historiker Jochen Voit und Illustrator Hamed Eshrat entdeckten diese unglaubliche Geschichte und sind Autoren des Graphic-Novel Buches „Nieder mit Hitler“. Sie präsentieren es in einer atmosphärischen Live-Comic-Lesung.

Trailer – Nieder mit Hitler
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Dokumentation: Redebeitrag zum Protest gegen die Mahnwache am 2. Februar 2023.

Anlässlich des Jahrestages der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht bei Stalingrad vor achtzig Jahren rief der Zittauer Ableger von PEGIDA am 2. Februar 2023 zu einer Mahnwache vor dem Gerhart-Hauptmann-Theater auf. Der Anmelder der Mahnwache Thomas Walde bewarb seine Veranstaltung unter anderem am Montag, den 30. Januar 2023 im Programm der Kundgebung des Bürgerbündnisses Grüner Ring auf dem Zittauer Marktplatz. Walde meint(e), mit der Erinnerung an die Katastrophe von Stalingrad gegen die militärische Unterstützung der Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen die russische Invasion Einspruch erheben und der Deutsch-Russischen Freundschaft das Wort reden zu können. An der Mahnwache beteiligten sich ca. 40 Personen, darunter neben Waldes „Freunden von Pegida Zittau“ auch Anhänger der Freien Sachsen und der sogenannten Alternative für Deutschland.

Wir dokumentieren im Folgenden einen längeren Auszug aus einem Redebeitrag, der bei dem Protest gegen die in ihrer Intention geschichtsvergessene, -revisionistische und realitätsferne Veranstaltung gehalten wurde:

„Eine Mahnwache zur Erinnerung an die Niederlage der Deutschen Wehrmacht in Stalingrad abzuhalten, ist an sich lediglich ein moralisch diskutables Vorhaben. Was uns hier heute aber zugemutet wird, ist in seiner Intention und praktischen Umsetzung gleich auf mehreren Ebenen eine groteske Darbietung. Die ganze Veranstaltung gleicht einer geschichtsrevisionistischen Pirouette, dass einem schwindlig wird, wenn man nur hinübersieht.

Erstens entkleiden sie das Gedenken an eine zentrale Schlacht im Zweiten Weltkrieg der Erinnerung an jenes ideologische Programm, das das Deutsche Reich mit diesem Krieg verfolgte. Stalingrad wird so zu einer simplen Kriegshandlung verfremdet.

Zweitens lässt sich die historische Abwehr des deutschen Vernichtungskrieges in Osteuropa durch die Sowjetunion und die sie unterstützenden Amerikaner nicht als Begründungszusammenhang für Zurückhaltung in Bezug Russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine heute heranziehen.

Drittens entlarvt die Wahl des Ortes für ein Gedenken an die Opfer des Zweiten Weltkrieges vor dem Gerhart-Hauptmann-Theater Zittau, dessen Gebäude 1936 von den Nationalsozialisten als Grenzlandtheater eröffnet wurde, den vermeintlichen Bruch eines Thomas Walde und seiner Anhänger:innen mit der politischen Tradition des nationalsozialistischen Deutschlands als das Anknüpfen an selbige.

[…]

-1-

Es reicht nicht daran zu erinnern, dass der Zweite Weltkrieg vom Deutschen Reich begonnen wurde und die Niederlage uns heute eine Lehre sein sollte. Das ist die Heuchelei einer heutigen Rechten, die ihren aggressiven Nationalismus als friedliebenden Patriotismus tarnt. Der Überfall auf die Sowjetunion war keine rein militärische Operation und die deutschen Opfer waren ein Preis, den das nationalsozialistische Regime und die Heeresführung zu zahlen bereit waren. Ihnen zu gedenken, hieße sich ernsthafte mit dem Nationalsozialismus und dem von ihm verursachten Krieg auseinanderzusetzen. Davon können wir bei Walde und seinesgleichen nichts erkennen.

Im Rahmen einer Erinnerung an die Opfer des Zweiten Weltkriegs muss daran erinnert werden, dass dieser Weltkrieg das Europa des 19. Jahrhunderts zerstörte. Dass dieser Weltkrieg jede Vernunft und Rationalität negierte und das geistige Erbe der Aufklärung zu zerstören suchte. Wer an die Opfer des Zweiten Weltkrieges erinnern will, muss zuallererst daran erinnern, dass dieser Krieg Osteuropa in ein Totenhaus verwandelt hat.

Der Überfall auf Polen, der Überfall auf die Sowjetunion und der ganze Krieg im Osten bildete den ideologischen Kern des deutschen Krieges. In Mittel- und Osteuropa sollte ein großdeutsches Reich, ein Imperium samt Kolonien errichtet werden. Der geopolitischen Strategie lag eine Mixtur aus Lebensraum- und Herrenmenschenphantasien, Eugenik Bevölkerungsplanung, Zerstörung, Terror sowie gnadenloser Vernichtung von Menschen zu Grunde.

Seit dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 setzten die Deutschen auf Terror, Zerstörung und Vernichtung. Bereits in den ersten Kriegstagen wurden zehntausende Juden hingerichtet, die polnische Intelligenz verhaftet, gefoltert, deportiert und ermordet, ganze Städte und Dörfer dem Erdboden gleichgemacht. Diese Art der Kriegsführung, die auch den Überfall auf die Sowjetunion nach dem 22. Juni 1941 kennzeichnete, war bis dato ungekannt.

Die Ideologie des Lebensraums überformte die militärischen Überfälle zu einem rassistischen Vernichtungskrieg. Die Deutschen unterschieden in den besetzten Ländern zwischen Bevölkerungsgruppen, die sie als Kollaborateur:innen rekrutierten und anderen, vor allem Pol:innen und Sowjets, die sie unterwarfen, deportierten oder gleich ermordeten, deren Kultur sie zu zerstören suchten. Die polnische und die in antisemitischer Weise als „judeo-bolschewistisch“ verunglimpften Menschen sollten ermordet werden. Ein verschwindend geringer eigens von den Deutschen dafür auszuwählender Rest war dafür vorgesehen, in der Sprache der Nationalsozialisten „eingedeutscht“ zu werden.

Was ich hier aufgezählt habe, ist keine nachträgliche Zusammenfassung der Kriegs- und Vernichtungshandlungen. Es war ein Plan, den die Nationalsozialisten akribisch ausgearbeitet und der durch Wehrmacht und SS mit größter Sorgfalt und unter größten Anstrengungen durchgeführt wurde. Wer den Krieg, den die Deutschen im Osten führten, verstehen will, muss sich mit dem „Generalplan Ost“ beschäftigen.

Der „Generalplan Ost“ wurde ab 1940 im Reichsicherheitshauptamt sowie im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete unter einem der wichtigsten nationalsozialistischen Ideologen Alfred Rosenberg gefasst. Die eroberten und dem Deutschen Reich einverleibten Gebiete sollten von Polen, Juden, Sinti und Roma und anderen Herkunfts- bzw. Zugehörigkeitsgruppen, die als „minderwertig“ kategorisiert wurden, im zynischen Jargon der Nazis „befreit“ werden. Die Nationalsozialisten unterschieden hierbei nochmals zwischen einer kulturellen, politischen und militärischen Elite, die sie vollständig vernichten, und einer allgemeinen Bevölkerung, die sie zu 97 Prozent zu ermorden oder zu deportieren trachteten. Anschließend sollten die Gebiete durch sogenannte „Volksdeutsche“ bevölkert werden. Für die Juden hatten sie mit der „Endlösung der Judenfrage“ eine vollständige Vernichtung beschlossen.

Der „Generalplan Ost“ war in seiner politisch-strategischen Anlage in gewissen Aspekten sogar pragmatisch eingeschränkt worden. Es heißt dort, dass auch wenn die „Ausrottung“ der Bevölkerung Polens und der Sowjetunion sinnvoll sei, komme diese „aus politischen und wirtschaftlichen Gründen“ – keineswegs jedoch wegen moralischer Bedenken – zunächst nicht „in Betracht“. Was das hieß, lässt sich an den Plänen für den baltischen Raum erkennen. Es heißt dort im Wortlaut: »Es sei zu erwägen, ob nicht durch die Industrialisierung des baltischen Raumes zweckmäßigerweise die rassisch unerwünschten Teile der Bevölkerung verschrottet werden könnten.« Und weiter: »An einer völligen biologischen Vernichtung des Russentums können wir jedenfalls solange kein Interesse haben, als wir nicht selbst in der Lage sind, mit unseren Menschen den Raum zu füllen.«

Der „Generalplan Ost“ scheiterte wesentlich an der Niederlage der Deutschen Wehrmacht in Stalingrad. Begleitet wurde diese von der Niederlage der deutschen Verbände unter Erwin Rommel in Nordafrika sowie vom Scheitern der deutschen Ambitionen im Kursker Bogen. Als kurz darauf die ersten amerikanischen Truppen auf Sizilien landeten, begann der Rückzug der Deutschen Wehrmacht an allen Fronten.

Die Niederlage in Stalingrad und all die anderen Wendepunkte im Kriegsverlauf, waren allerdings keine Endpunkte des deutschen Vernichtungskrieges. Die Deutschen intensivierten stattdessen die Ermordung der von ihnen als „minderwertig“ diffamierten Bevölkerungen. Während sie sich Meter für Meter von den vorrückenden alliierten Truppenverbänden abringen ließen, setzten sie das Massenmorden unvermindert fort. Hinter ihnen blieb nur „verbrannte Erde“ zurück: 1.700 Städte, 70.000 Dörfer und der größte Teil der Infrastruktur wurden allein auf dem von ihnen zuvor eroberten Territorium der Sowjetunion annähernd vollständig zerstört. Über 3 Millionen sowjetische Kriegsgefangene fielen den Nazis zum Opfer.

Die Zahlen können das Ausmaß der Zerstörung nicht beschreiben. Systematisch und nachhaltig hatten die Deutschen im Zweiten Weltkrieg das Antlitz Mittel- und Osteuropas beschädigt. Der Krieg folgte keiner Rationalität. Bis zuletzt diente er sogar gegen den eigenen Selbsterhaltungstrieb vor allem der Vernichtung.

-2-

Wer heute Stalingrad gedenkt, muss die politische Einordnung der Sowjetunion differenziert betreiben. Die Rote Armee war zweifellos unverzichtbarer Teil der alliierten Koalition gegen Hitler. Aber sie war selbst militärischer Arm der Sowjetunion, deren Ziel nie nur die Befreiung Europas vom Faschismus war. Die Mittel, die sie in diesem Krieg einsetzte, waren die Mittel einer totalitären Diktatur, die jede Abweichung vom Kurs auszumerzen suchte. Dies zeigen exemplarisch zwei Befehle Stalins, die offenbaren, dass in der Abwehr der deutschen Bedrohung auch ein Krieg gegen das eigene Volk geführt wurde.

Nach dem Überfall der Deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion im Sommer 1941 erließ Stalin den Befehl 270. Für Sowjetsoldat:innen, die in gegnerische Kriegsgefangenschaft geraten waren, verhieß dieser den Status eines/r Verräters/in und Volksfeindes/in. Daraus resultierten auch Repressalien für die Angehörigen der inkriminierten Soldat:innen. Und in dem Monat, da die Schlacht um Stalingrad begann, erließ Stalin den Befehl 227. In der Folge wurden Spezialeinheiten gebildet, die auf sogenannte „unstabile Divisionen“, auf als Panikmacher:innen und Feiglinge diffamierte schießen mussten. Wenn man den Beitrag der Roten Armee zur Befreiung Europas vom Nationalsozialismus gedenkt, und das muss man tun, so sollte man auch darüber sprechen, unter welchen Zwangsmaßnahmen dieser Erfolg erreicht wurde. Andernfalls verhöhnt man die menschenunwürdige Situation all derer, die sich im Prinzip nur noch aussuchen konnten, von wem sie erschossen würden.

Diese Differenziertheit ist ein Gradmesser dafür, ob wir aus der Geschichte lernen, oder nicht. Eine Würdigung des Beitrags der Roten Armee kann nicht ohne Benennung ihrer Verbrechen gelingen. Das gilt auch Abseits der heute Abend im Zentrum der Diskussion stehenden Schlacht. 1939 konnte das Deutsche Reich den Zweiten Weltkrieg mit dem Überfall auf Polen beginnen, weil es dies im Bund mit der Sowjetunion tat. Gemeinsam teilten diese sich Polen untereinander auf. Die Sowjetunion ermordete in Katyn und vier weiteren Orten auf ihrem eigenen Territorium ca. 22.000 bis 25.000 polnische Militärs, Polizeioffiziere und Intellektuelle. Hierbei handelt es sich um Massenmorde, die ähnlich der deutschen Verbrechen nicht im Rahmen der symmetrischen Kriegsführung verstanden werden können.

Es ist diese politische und militärische Tradition, an die Russland heute in der Ukraine anknüpft. Putin ist nicht Hitler, denn der Holocaust ist ein singuläres Verbrechen, dass auch in den Gulags nicht seinesgleichen findet. Putin ist auch nicht Stalin, denn Putin hängt einem Revisionismus an, den die Sowjetunion gar nicht kennen konnte. Sie suchte gegen die Aggressionen der Deutschen ihren Besitzstand zu verteidigen und dehnte ihn anschließend aus. Putins militärische Ambitionen sind ein aggressives Streben nach der Ausdehnung eines großrussischen Reiches in den Grenzen der ehemaligen Sowjetunion.

Putins Krieg ähnelt aber einem historischen Moment, der uns hier in Zittau besonders interessieren sollte. Schon beim Krieg in Georgien 2008 aber vor allem im Krieg gegen die Ukraine, der bereits seit 2014 läuft, sind erschreckende Ähnlichkeiten zur Zerschlagung der Tschechoslowakei in den Jahren 1938/39 zu erkennen. Der Einmarsch in die Ukraine im Februar des vergangenen Jahres trägt ganz eindeutig die Züge eines Vernichtungskrieges. Die zum Teil zögerliche Reaktion dritter Staaten, sich in diesem heutigen Krieg für die Verteidigung der Ukraine einzusetzen, rufen Erinnerungen an die Appeasementpolitik wach, mit der den militärischen Ambitionen des Deutschen Reichs in den 1930er Jahren begegnet wurden. Das lässt sich auch nicht mit einer Erinnerung an Stalingrad konterkarieren.

Mit der Erinnerung an das militärische Desaster vom Winter 1942/43 soll auf der Mahnwache vor dem GHT heute Abend nicht nur den Opfern des Krieges auf beiden Seiten gedacht werden. Vielmehr werden in nationalchauvinistischer Manier die eine Million Toten auf der Seite der Achsenmächte zum Argument gegen die Solidarität mit der Ukraine verdreht. Interpretiert man den Aufruf wohlwollend, werden 1,13 Millionen Tote auf Seiten der Alliierten zu einer moralischen Verantwortung der Deutschen, nie wieder Krieg in Osteuropa zu führen. In jedem Fall lässt sich aber festhalten, dass dieses „nie wieder Krieg“ ein selbstsüchtiges, ein selbstherrliches, geschichtsvergessenes und realitätsfernes Programm ist, das selbst einem deutschen Nationalchauvinismus und einem Geschichtsrevisionismus entspringt.

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Ich möchte noch ein paar Worte zur Wahl des Vorplatzes des Gerhart-Hauptmann-Theaters als Ort für diese Mahnwache verlieren. Am Montag dieser Woche jährte sich die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichslanzler zum 90. Mal. Damals, im Jahre 1933 wurde dieses Ereignis in Zittau am 1. Februar mit einem Fackelumzug gefeiert. Heute nun stehen Neo-Nazis und völkische Rechte in Zittau und spielen wieder mit dem Feuer.

Sie stehen dabei nicht zufällig vor dem Gerhart Hauptmann Theater. Der Bau, in dem sich das Zittauer Theater heute befindet, wurde in der Frühzeit des Nationalsozialismus wiederaufgebaut, nachdem das alte Theater 1932 einem Brand zum Opfer gefallen war. Als eines von drei Theatern, das in der Zeit des Nationalsozialismus im gesamten Reich neu eröffnet wurde, trägt es in der Architektur die Kennzeichen einer nationalsozialistischen Ästhetik. Es mag daher kein Zufall sein, dass sich Thomas Walde diesen einzigen historischen Ort in Zittau, der noch nach seiner geistigen Weltanschauung aussieht, gewählt hat, um seine politischen Veranstaltungen durchzuführen. Meines Erachtens zeigen Walde und die Teilnehmer:innen der Mahnwache vor dem Gehrart-Hauptmann-Theater mit dieser Ortswahl deutlich, wes Geistes Kinder sie sind.

[…]“

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30. Januar 1933: „Machtergreifung“ oder die Bedingungen der Möglichkeit der nationalsozialistischen Diktatur.

Machtübergabe

Ende Januar 1933 geht alles plötzlich ganz schnell. Die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) entzog am 26. Januar dem maßgeblich von ihnen gestützten amtierenden Reichskanzler Kurt von Schleicher das Vertrauen. Dieser wandte sich daraufhin an den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg. Von Schleicher wollte den widerspenstigen Reichstag auflösen, jedoch ohne Neuwahlen anzusetzen und mit weitreichenden Vollmachten das Deutsche Reich regieren. Das wäre einem Staatstreich gleichgekommen. Reichspräsident von Hindenburg lehnte das Gesuch ab. Am 28. Januar erklärte von Schleicher seinen Rücktritt.

Reichspräsident von Hindenburg hatte währenddessen den parteilosen Franz von Papen, der bis Dezember 1932 Reichskanzler gewesen war, mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt. Von Papen hatte sich bereits am 4. Januar mit Adolf Hitler, dem Vorsitzenden Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) getroffen, um die Option einer gemeinsamen Regierungsarbeit zu verhandeln. Nach dem Rücktritt Kurt von Schleichers strebte von Papen erneut nach der Macht und als Vizekanzler ebnete der enge Vertraute des Reichspräsidenten den Weg für Hitlers Kanzlerschaft. Um 11:00 Uhr morgens, am 30. Januar 1933 übertrug Paul von Hindenburg Adolf Hitler das einflussreiche Amt.

Adolf Hitler am Fenster der Reichskanzlei in der Berliner Wilhelmsstraße am Abend des 30. Januar 1933. Anhänger und Sympathisanten bejubeln den neu ernannten Reichskanzler. (Quelle: Bundesarchiv, Bild 146-1972-026-11 / Sennecke, Robert / CC-BY-SA 3.0)

Der 30. Januar markiert eine wichtige Wegmarke auf dem Weg in die nationalsozialistische Diktatur. In den folgenden Tagen, Wochen und Monaten nahm die Machteroberung rasant an Geschwindigkeit und Brutalität zu. Schritt für Schritt betrieben die Nationalsozialisten im Bund mit den Deutschnationalen und der rechtskonservativen Elite den Abbau der parlamentarischen Demokratie, die Zerstörung der Weimarer Republik. Einmal an der Macht, errichteten Hitler und seine Anhänger einen Apparat totalitärer Machtausübung. Doch die Übertragung der Macht an Adolf Hitler war nicht unausweichlich. Es waren die demokratisch legitimierten Funktionsträger der Weimarer Republik, die ihm an jenem 30. Januar die Macht übergaben. Aber musste es so kommen, wie es gekommen ist?

Machteroberung

Auf die Frage nach dem Warum gibt es keine einfache Antwort. Zunächst dürften damals sowohl von Hindenburg als auch von Papen angenommen haben, dass es ohne die Nationalsozialisten keine erfolgreiche Regierungsarbeit mehr gegeben hätte. Die NSDAP stellte nach ihrem Erfolg bei den Reichstagswahlen Ende Juli 1932, bei dem sie die SPD als größte Fraktion ablöste, die meisten Abgeordneten im Deutschen Reichstag. Die Nationalsozialisten nutzen diese Mehrheit als Druckmittel auf die Regierungsbildung, um bereits im Sommer 1932 die Kanzlerschaft Adolf Hitlers durchzusetzen. Sie drohten, andernfalls jede konstruktive Mitarbeit im Parlament zu unterlassen. In diesem Moment, ein halbes Jahr vor dem 30. Januar 1933, verweigerte Hindenburg die Zustimmung zur Einsetzung Adolf Hitlers als Reichskanzler allerdings noch. Daraufhin missbrauchte der zum Reichstagspräsidenten gewählte Nationalsozialist Hermann Göring in der ersten Sitzung der neuen Legislatur am 12. September 1932 seine Macht, um den Reichstag wieder aufzulösen. Zwar verlor die NSDAP in der Konsequenz dieser Sabotage in der nächsten Wahl zum Reichstag am 6. November wieder Mandate, doch bildete sie auch Anfang 1933 weiterhin die stärkste Fraktion.

„In zwei Monaten haben wir Hitler in die Ecke gedrückt, dass er quietscht!“

Franz von Papen

Im Januar 1933, als die Regierung unter Kurt von Schleicher scheiterte, schien Franz von Papen nur noch den Ausweg zu sehen, der NSDAP Zugeständnisse zu machen und mit ihnen eine arbeitsfähige Regierung zu bilden. Von Papen und die DNVP waren überdies überzeugt, dass sie Hitler und die NSDAP durch das Zugeständnis von allein zwei Posten im Kabinett würden einhegen können. Der Vorsitzende der DNVP, Alfred Hugenberg erklärte damals: „Wir rahmen also Hitler ein.“ Franz von Papen soll in diesem Sinne ebenfalls überzeugt gewesen sein, sie hätten „in zwei Monaten […] Hitler in die Ecke gedrückt, dass er quietscht!“ Am Abend des 29. Januar, nur einen Tag nach dem Rücktritt von Schleichers legte von Papen dem Reichspräsidenten den Vorschlag zur Bildung eines Kabinetts unter der Kanzlerschaft Adolf Hitlers vor.

Dass der Reichspräsident dem vorgeschlagenen Kabinett zustimmte, hatte allerdings noch einen anderen Grund. Eine mögliche Beteiligung der NSDAP an der künftigen Regierung weckte im Januar 1933 insbesondere bei der obersten Militärführung des Deutschen Reiches die Sorge einer bevorstehenden nationalsozialistischen Diktatur. General Kurt von Hammerstein, damals der Chef der Heeresleitung, traf sich heimlich mit Adolf Hitler, um sich über dessen Pläne zu informieren. Bei Hitler und den beiden engsten Genossen in der Parteiführung der NSDAP, Joseph Goebbels und Hermann Göring, weckte das Interesse des Generals die Befürchtung, das Militär könne im Falle der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler gegen dessen Regierung putschen. Als Franz von Papen dem Reichspräsidenten den Kabinettsvorschlag unterbreitete, informierte dieser ihn zudem, dass ein Putsch der Reichswehr bevorstehe, der eine Militärdiktatur unter Kurt von Schleicher und General von Hammerstein durchsetzen solle. Nur unter dem Eindruck dieses Gerüchts ernannte von Hindenburg entgegen seiner ursprünglichen Absichten am Morgen des 30. Januar 1933 Adolf Hitler zum neuen Reichskanzler.

Januar 1933 in der Reichskanzlei. Das Kabinett Hitler: 1. Reihe sitzend, von links: Hermann Göring, Adolf Hitler, Franz von Papen; 2. Reihe stehend: Franz Seldte, Günther Gereke, Lutz Graf Schwerin von Krosigk, Wilhelm Frick, Werner von Blomberg, Alfred Hugenberg. Die drei Nationalsozialisten (Hitler, Frick, Göring in Anordnung einer Dreierpyramide) sind in diesem Foto von den restlichen Kabinettsmitgliedern „eingerahmt“. (Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-H28422 / CC-BY-SA 3.0)

Die überhebliche Haltung der Deutschnationalen um Franz von Papen und Paul von Hindenburg, die sich selbst als verdiente Militärs und angesehene Aristokraten dem nur 44 Jahre alten „Emporkömmling“ Adolf Hitler weit überlegen fühlten, mag die politische Elite zu dieser Fehlentscheidung veranlasst haben. Es wird aber auch klar, dass die Zeitgenossen offenkundig nicht mit dem rechneten, was in den folgenden Wochen geschah. Zumindest die beteiligten Politiker der ersten Hitlerregierung wurden von der Dynamik der nun rasant fortschreitenden Machteroberung eher überrascht. Intellektuelle Zeitgenossen wie Klaus und Heinrich Mann, Hannah Arendt, Käthe Kollwitz, Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger und einige weitere erkannten zwar sofort, dass sich hier eine fundamentale Veränderung der politischen Verhältnisse vollzog. Diese Fürsprecher der Weimarer Demokratie waren allerdings in der Minderheit.

Für die Nationalkonservativen war der politische Bruch hingegen kaum zu erkennen. Sie waren von den demokratischen Werten der Weimarer Republik selbst nicht überzeugt. Die genuine Vielfalt einer modernen Gesellschaft war ihnen zu wider, Pluralismus missverstanden sie als Zersplitterung politischer Interessen. Sie traten ein für eine Idee der nationalen Gemeinschaft, in der sich die politischen Widersprüche unter der Führung eines starken Mannes auflösen sollten. Ihnen waren mehrheitlich also selbst antiparlamentarische Reflexe eigen, die die Nationalsozialisten in den folgenden Wochen mit in der faktischen Abschaffung des demokratischen Systems der Weimarer Republik gewissermaßen bedienten. Franz von Papen und Kurt von Schleicher, die beiden letzten Reichskanzler vor der ersten Hitlerregierung, hatten zu Sicherung ihrer Macht selbst um den Einsatz der Notverordnungen und die Ausschaltung des Parlaments beim Reichspräsidenten vorgesprochen. Der Reichspräsident von Hindenburg regierte bereits seit einer Weile mit Notverordnungen und favorisierte die Regierungsform der Präsidialkabinette.

Das erste Präsidialkabinett der Weimarer Republik hatte sich unter von Hindenburgs Ägide bereits Ende März 1930 gebildet. Am 27. März stürzten unzufriedenen Sozialdemokraten und Abgeordnete der Deutschen Volkspartei (DVP) die Große Koalition unter dem sozialdemokratischen Kanzler Hermann Müller, weil sie sich nicht auf die Erhöhung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung einigen konnten. Zwei Tage später bildete der Zentrumspolitiker Heinrich Brüning erstmals in der Geschichte der deutschen Demokratie ein Kabinett ohne eigene Mehrheit im Reichstag. Brünings Minderheitenregierung arbeitet gegen eine starke sozialdemokratische Opposition und gegen wachsende antidemokratische Fraktionen der NSDAP und KPD. Als im Sommer 1931 die Bankenkrise die deutsche Wirtschaft erfasste und die Zahl der Arbeitslosen quasi über Nacht in die Höhe schoss, reagierte Brüning mit einer rigorosen Sparpolitik. Die Unterstützung schwand in demselben Tempo, wie die soziale Verelendung durch seine Deflationspolitik zunahm. Am 30. Mai 1932 wird Brüning auf Betreiben Kurt von Schleichers durch den Reichspräsidenten von Hindenburg entlassen. In den nächsten acht Monaten folgen die Präsidialkabinette unter Franz von Papen, Kurt von Schleicher und schließlich Adolf Hitler.

Reichskanzler Heinrich Brüning redet auf einer Wahlkampfveranstaltung des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg im März 1932 im überfüllten Sportpalast vor 20.000 Zuschauern. (Quelle: Bundesarchiv, Bild 102-13229 / CC-BY-SA 3.0)

Die Reichskanzler vor Hitler hatten aber nicht nur selbst versucht, den Reichstag auszuschalten und mit Notverordnungen des Reichspräsidenten von Hindenburg zu regieren. Sie lieferten den Nationalsozialisten auch viel schwerwiegendere Instrumente zur Eroberung der Macht. Die unter Reichskanzler Adolf Hitler am 4. Februar 1933 erlassene „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des Deutschen Volkes“, die die Presse- und Versammlungsfreiheit massiv beeinträchtigte, arbeitete bereits das Kabinett Franz von Papen im Herbst 1932 aus. Es ist folglich auch keine Überraschung, dass von Papen des Weiteren unter dem Eindruck des Reichstagsbrandes am 27. Februar 1933 dem Reichspräsidenten von Hindenburg die sogenannte Reichstagsbrandverordnung zur Unterzeichnung vorlegte und dieser sie unterschrieb. Die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ stammte zwar aus der Feder Adolf Hitlers. Doch es war von Hindenburg, der mit seiner Unterschrift die Bürgerrechte außer Kraft setzte und die Verhaftung tausender vermeintlicher und tatsächlicher Gegner der Nationalsozialisten ermöglichte. In der Wahl zum achten Reichstag am 5. März 1933 nutzte die NSDAP diese Verordnungen, um den Wahlkampf zu ihren Gunsten zu beeinflussen und den politischen Gegner zu beseitigen. In dieser letzten Wahl, die angesichts der Umstände nicht mehr frei und daher auch nicht demokratisch war, errang die NSDAP 43,9 Prozent der Stimmen im Deutschen Reich. Für die NSDAP war diese Legitimation durch große Teile des deutschen Volkes von enormer Bedeutung.

Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar 1933 (Gemeinfrei)

Innerhalb von fünf Jahren, seit der Reichstagswahl im Mai 1928, in der die NSDAP noch mit 2,6 Prozent Stimmenanteil abschnitt, wuchs sie zur Volkspartei im Wortsinn heran. Unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise, die bald in eine politische Systemkrise umschlug, profilierte sich die national-völkische Splitterpartei zur politischen Alternative, der eine klare Mehrheit der Wahlberechtigten Bürger:innen des Deutschen Reiches ihre Stimme gab. Zunächst konnte sie vor allem Wähler:innen der bürgerlichen Mittelschicht von sich überzeugen. Im Angesicht der Folgen der Wirtschaftskrise fühlten sich auch immer mehr Arbeiter:innen aus den ländlichen und kleinstädtischen Regionen von dem Programm der NSDAP angesprochen. Sie sahen bei der NSDAP im Unterschied zu den anderen Parteien ganz offensichtlich die größte Problemlösungskompetenz. Eine wachsende Zahl der wahlberechtigten Bürger:innen hatte das Vertrauen in die politische Ordnung, die Institutionen der Demokratie verloren. Mit Sechs Millionen waren die Nichtwähler:innen die zweitgrößte Gruppe, die für die NSDAP den Gang zur Urne auf sich nahm.

Die Politik des „Alles oder Nichts“, die Hitler mit der NSDAP verfolgte, war dabei nicht ohne Risiko. Sie hätte nicht erfolgreich sein müssen, hätte unterbunden werden können. Im Laufe des Jahres 1932 hatten Hitler und die NSDAP noch einige Niederlagen einstecken müssen. In ihrer eigenen Wahrnehmung war der 30. Januar 1933 das Ergebnis ihres machtpolitischen Kalküls und doch sahen sie den Erfolg auch selbst als ein Wunder. Seit dem gescheiterten Kapp-Putsch im Jahre 1923 hatte die nationalsozialistische Bewegung auf diesen Tag hingearbeitet. Bis zuletzt konnte sie nicht sicher sein, dass sie Erfolg haben würde.

Geschichte und Gegenwart

Geschichte muss als Möglichkeitsraum gedeutet werden, um die tatsächliche Entwicklung historisch beurteilen zu können. Alternativen hätte es gegeben. Der Beginn der Herrschaft der Nationalsozialisten war nicht nur der Todesstoß für die parlamentarischen Demokratie der Weimarer Republik. Hitler und die NSDAP verhinderten in ihrer eigenen Wahrnehmung auch die Errichtung einer Militärdiktatur und schoben auch den Ambitionen der kommunistischen Teile der Arbeiterbewegung einen Riegel vor, die eine „Diktatur des Proletariats“ nach sowjetischem Vorbild zu errichten suchten. Die KPD bildete neben der NSDAP die zweite große Fraktion, die sich an der Sabotage der Weimarer Demokratie und der Zuspitzung der politischen Krise beteiligte. Die beachtliche Zustimmung, die Adolf Hitler und seine NSDAP erfuhren, rührte auch aus der Sorge vor einem kommunistischen Umsturz, der sich aus der Wahrnehmung der KPD als einer „fünften Kolonne“ der Sowjetunion in der deutschen Politik speiste. Die Spaltung der Arbeiterbewegung, die zu handfesten Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten führte, verhinderte auch die konstruktive Arbeit einer Arbeiterbewegung an der Lösung der grassierenden sozialen Frage. Die SPD wurde im doppelten Abwehrkampf zwischen NSDAP und KPD regelrecht zerrieben.

Wenn wir eine Lehre aus dieser Betrachtung für die Gegenwart ziehen können, dann ist es die Einsicht, dass die Weimarer Demokratie letztlich daran zu Grunde ging, dass ihr die wehrhaften Demokrat:innen fehlten. Sie war eine Republik ohne Republikaner. An ihrem Untergang waren die demokratisch gewählten Vertreter, die die Institutionen der Demokratie innehatten, aktiv beteiligt. Diejenigen, die die demokratische Verfasstheit faktisch abgebaut haben, wurden demokratisch gewählt, aber sie waren keine Demokraten.

Adolf Hitler und die NSDAP wurden gewählt, weil die Bürger:innen der Weimarer Republik das Vertrauen in die Demokratie verloren oder gar nie gefunden hatten. Vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise, die auch im Deutschen Reich die Zahl der Arbeitslosen auf sechs Millionen hochtrieb und die ein für damalige Verhältnisse extremes Maß an Verelendung verursachte, wurde der Schrei nach Sicherheit immer lauter. Bis er schließlich in einem jede Differenz übertönenden Ruf nach dem starken Führer aufging.

Den Ruf nach einem starken Führer vernehmen wir auch heute wieder vermehrt. In Studien wird er regelmäßig als Item neo-nationalsozialistischer Einstellungsmuster abgefragt und erreicht signifikante Zustimmungswerte. Gleiches lässt sich mit Blick auf Geschichtsrevisionismus und Nationalchauvinismus konstatieren, wobei die Zahlen hier noch deutlich höher sind. Rechte Politik beschwört auch heute noch die nationale Gemeinschaft gegen die moderne Gesellschaft mit ihren abstrakten und diversen Zugehörigkeiten. Dennoch leben wir heute nicht in einer Situation wie 1933. Vor allem ist die parlamentarische Ordnung heute rechtsstaatlich gegen den autoritären Missbrauch durch führende Ämter geschützt. Andererseits ist die gegenwärtige Sorglosigkeit vieler Funktionsträger:innen und Bürger:innen gegenüber der Bedrohung der Demokratie durch völkisch-nationalistische Strukturen eine bedenkenswerte Parallele. Wir dürfen uns heute jedenfalls nicht auf der Erkenntnis ausruhen, dass sich die Geschichte nicht eins zu eins wiederholt und dass Berlin ja nicht Weimar ist.

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